«Wir glaubten, sie tun uns nichts»

7. April 2012

​Im Vorkriegs-Ungarn verloren sie ihre Jugend, im KZ ihre Familie, nach der Wende ihre Wohnung. Wie zwei Schwestern die Stürme des 20. Jahrhunderts durchlebten.

Von Bernhard Odehnal, Budapest
 
«Auswandern», sagt Eva Ignacz, «weil hier wird es doch immer schlimmer». Auswandern? «So ein Quatsch», fällt ihr Klara Böhm ins Wort, «du kannst doch nicht einmal die Wohnung verlassen.» Schon streiten die beiden Frauen wieder so heftig, dass sie ihren Besucher vergessen. Und das in einer Lautstärke, als müssten sie sich in einem ausverkauften Fussballstadion Gehör verschaffen. Dabei sitzen wir in ihrer Wohnung, und wenn sie nicht reden, ist nur das leise Ticken einer Pendeluhr zu hören.
 
Klara Böhm und Eva Ignacz (geborene Böhm) sind Schwestern, Klara ist 88, Eva 86 Jahre alt. Die beiden sind meine Nachbarinnen. Tür an Tür leben wir in einem der typischen Budapester Bürgerhäuser, die langsam verfallen, weil das Geld für Renovierungsarbeiten fehlt. Lange Zeit kannte ich nur ihre Stimmen, die durch den Innenhof hallen, wenn Klara und Eva über Einkaufslisten, die Zimmertemperatur oder das TV-Programm streiten. Und ihr Fernsehgerät, das jeden Abend in ohrenbetäubender Lautstärke läuft. Dass Eva im Konzentrationslager fast taub geprügelt worden war, erfuhr ich erst später.

Kein Geld zum Auswandern

Mein Vermieter konnte auch nicht viel über das seltsame Geschwisterpaar von nebenan erzählen. Nur, dass sie ihr ganzes Leben immer zusammen waren, dass sie eine Hassliebe verbindet, die im Haus manchmal als herzliches Lachen, öfter aber als Zank zu hören ist. Und dass ihre Familie im Holocaust umkam. Ich wollte mehr über sie wissen, und so stand ich eines Abends vor ihrer Tür, mit einer Flasche Wein in der einen, Blumen in der anderen Hand, mit einem Freund als Übersetzer. Dann hörten wir den Schwestern zu, fast fünf Stunden lang: Wie sie im faschistischen Ungarn ihre Rechte und ihre Jugend, in Auschwitz ihre Familie verloren. Wie sie vom Kommunismus enttäuscht und in der Demokratie aus ihrer Wohnung vertrieben worden waren.
 
Eva kann kaum noch gehen, und auch Klara tut sich schwer. Doch wenn sie reden, wirken sie wie verschmitzte Teenager. Ob sie eine Pause machen wollen, frage ich nach zwei Stunden. Aber nein. «Es ist gut, dass uns jemand fragt, solange wir noch hier sind», sagt Eva.
 
Klara und Eva (die eigentlich Józsa heisst, aber seit ihrer Kindheit nur Eva genannt wird) wurden in Zalaegerszeg in eine jüdische Familie geboren. In der Kleinstadt im Südwesten Ungarns gab es eine wohlhabende jüdische Gemeinde. Doch die Stimmung in der Stadt hat Klara als «sehr judenfeindlich» in Erinnerung. Der Neid auf die reichen Kaufleute sei gross gewesen. Die Böhms waren arm. Als Verkäufer in einem Werkzeugladen konnte der Vater die sechsköpfige Familie mehr schlecht als recht ernähren. «Weil wir nichts hatten, glaubten wir, sie tun uns nichts.»
 
1938 wollte der ungarische Diktator Miklos Horthy mit Hitlers Hilfe das im Vertrag von Trianon zerschlagene Grossungarn wiederherstellen. Als Gegenleistung für die deutsche Waffenbrüderschaft führte Ungarn drei Gesetze ein, welche die Juden vom öffentlichen Leben ausschlossen und sie enteigneten. In Zalaegerszeg verlor Vater Böhm seine Arbeit, die Töchter mussten die Schule verlassen. Mehrmals wurden die Böhms delogiert. Weil sie die Miete nicht zahlen konnten. Weil sie Juden waren.
 
Damals dachten Klara und Eva zum ersten Mal ans Auswandern. Nach Amerika. «Aber woher hätten wir das Geld nehmen sollen?» Aus Budapest kam ein beruhigender Brief: Die Juden werden zum Arbeiten gebraucht, schrieb eine Cousine, «man will euch nichts tun.» Tatsächlich versuchte Ungarns Regierung, die «Endlösung der Judenfrage» hinauszuschieben. Das wiegte die Juden in falscher Sicherheit. Als im März 1944 Hitlers Armee in Ungarn einmarschierte, wollte ihre Mutter den deutschen Soldaten sogar noch Suppe bringen, erzählt Eva: «Wir hatten keine Ahnung, was sie mit uns machen würden.»
 
Nicht die Wehrmacht, sondern die ungarische Gendarmerie Csendörseg holte im Mai 1944 die Böhms aus ihrer Wohnung. Erst musste die Familie gemeinsam mit 1200 Juden aus der Stadt in ein Ghetto. Nach einigen Wochen brachten sie die Gendarmen in eine Ziegelfabrik. An den Kommandanten namens Zöldi erinnert sich Eva gut: «Wir mussten uns im strömenden Regen in einer Reihe aufstellen. Zöldi fragte jeden, wo er sein Gold versteckt habe. Der Mann neben mir konnte nichts geben und wurde zu Tode geprügelt. Seit ich das gesehen habe, bin ich überzeugt, dass es keinen Gott gibt.»
 
Am 5. Juli mussten die Juden aus Zalaegerszeg und den umliegenden Dörfern in einen langen Güterzug steigen, bis zu 100 Personen in jeden Wagen. Im Bahnhof Kassa (heute Košice in der Slowakei) übergab die ungarische Gendarmerie den Zug an die deutsche SS. Eva entdeckte in einem anderen Wagen ihre Grossmutter. Sie war während der Fahrt an Erschöpfung gestorben. Die Leiche wurde ausgeladen und in ein Massengrab geworfen.

Fast blind und taub geprügelt

Am 7. Juli kam der Zug als einer der letzten Transporte aus der ungarischen Provinz in Auschwitz an. 430 000 Juden waren in weniger als acht Wochen deportiert worden. Die meisten wurden sofort ermordet. Klara träumt heute noch oft von Auschwitz. Sie erinnert sich auch besser an Namen und Daten. «Lass das doch», sagt Eva dann zu ihr, «wir können nichts mehr ändern.» Im Gegensatz zur älteren Schwester hat Eva nach dem Krieg geheiratet und eine eigene Familie gegründet: «Da blieb mir wenig Zeit für Erinnerungen.»
 
Über eine Stunde erzählen die Schwestern vom Lager, vom Stehen in der Sonne, bis die Haut verbrannte, von Kohlköpfen in den Gemüsegärten der SS, die mit menschlicher Asche gedüngt wurden, von diesem «gut aussehenden» Lagerarzt namens Mengele, dessen Experimenten sie knapp entkamen. Einmal schlich Eva zu einem Tankwagen, um das schmutzige Wasser zu trinken. Ein SS-Mann entdeckte sie und schlug mit seinem Knüppel zu. Seither kann sie auf dem linken Ohr nicht hören und ist auf dem linken Auge blind.
 
Weil sie noch arbeiten konnten, kamen die Schwestern in die Munitionsfabrik Lichtenau in Hessen. Als die Amerikaner näher rückten, wurden sie von der SS quer durch Deutschland getrieben, von Lager zu Lager, immer von Hunger geplagt, immer in Todesangst. Eva: «Ich wurde beinah erschossen, weil ich im Schweinestall zehn Kartoffeln stahl.» Klara: «Es war nur eine Kartoffel.» Eva: «Nein, es waren mehr, ich habe sie euch zum Essen gegeben.» Klara: «Ach, du verwechselst doch alles.»
 
Schliesslich wurden die Zwangsarbeiterinnen von US-Truppen befreit. Klara und Eva hätten damals nach Amerika auswandern können. Aber sie hofften, dass die Familie wieder zusammenkommen würde, und blieben in Ungarn. Dass die Mutter und die älteste Schwester gleich nach der Ankunft in Auschwitz in die Gaskammer geschickt worden waren und der Vater wenige Wochen später starb, erfuhren sie erst später.
 
Der Empfang in Budapest war kühl; in der zerstörten Stadt kämpfte jeder ums Überleben, niemand wollte Geschichten aus den Vernichtungslagern hören. Bei einer Tante konnten die Schwestern wohnen, Eva fand Arbeit im Paris, dem einst vornehmsten Kaufhaus der Stadt - Klara in einer Textilfabrik. Beide traten der kommunistischen Partei bei. «Aus Überzeugung», sagen sie, «denn wir waren arm, und wir waren Arbeiter.» Parteichef Matyas Rakosi werde der Arbeiterklasse eine bessere Zukunft geben, dachten sie damals. Eva heiratete, bekam eine Tochter und eine Wohnung in der Andrassy-Strasse, dem Budapester Prachtboulevard. Klara blieb bei der Schwester und deren Familie; als alleinstehende Frau hatte sie kein Recht auf eine eigene Wohnung.
 
Nur zwei Häuser weiter war die Zentrale der berüchtigten ungarischen Staatssicherheit. Diese hatte die Folterkeller von den Faschisten übernommen und führte sie einfach weiter.

Von der Partei enttäuscht

Haben die Schwestern nichts von den Schrecken in der unmittelbaren Nachbarschaft mitbekommen? Eva: «Dass die Kulaken misshandelt wurden, war nicht schön.» Klara: «Das haben wir damals doch gar nicht gewusst.» Eva: «Ich habe das schon gewusst.» Klara: «Stimmt, das war nicht schön. Aber es war halt eine Diktatur.»
 
Noch einmal stand Klara vor der Entscheidung: Auswandern - oder nicht? Das war beim Aufstand von 1956. Eine Freundin versteckte sie vor den Aufständischen, denn sie galt als Parteikader. Die jüngere Schwester überredete sie, zu bleiben. Später brachen beide mit der Partei, aus Empörung über Korruption und Misswirtschaft. Die Jahre des «Gulasch-Kommunismus» unter Janos Kadar, mit sicherem Einkommen und kleinen Freiheiten, bezeichnen sie aber als die besten ihres Lebens. Heute sehen sie jeden Abend die Nachrichten eines den Sozialisten nahestehenden TV-Senders und fühlen sich bei manchen Meldungen an die finsteren 50er-Jahre erinnert. «Dieser Viktor Orban», sagt Klara dann, «ist doch genauso wie Rakosi. Nur haben wir heute Pressefreiheit und können das offen sagen.»
 
Die Wende kam 1989 auf leisen Sohlen und schien für Klara und Eva nicht viel Veränderung zu bringen. Doch der freie Markt hatte noch eine Überraschung parat. Ein korrupter Bezirksbürgermeister verkaufte ihr Haus in der Andrassy-Strasse, und die neuen Besitzer störten sich an den zwei alten Damen als Mieterinnen. 60 Jahre nach dem Ghetto von Zalaegerszeg wurden sie abermals delogiert. Nicht mit Polizeigewalt, aber doch auf die brutale Tour. Man kappte den Gas- und Stromanschluss.
 
Ironie des Schicksals: Heute leben sie in jenem Budapester Quartier, in dem während der letzten Kriegsjahre Tausende Juden in den Schutzhäusern des Schweizers Carl Lutz und des Schweden Raoul Wallenberg Zuflucht fanden. Wenn Klara heute einkaufen geht, kommt sie in der Wallenberg-Gasse am Denkmal des von den Sowjets ermordeten Diplomaten vorbei. Ungarn feiert dieses Jahr seinen 100. Geburtstag. Von seiner Existenz und seiner mutigen Rettungsaktion erfuhren die Schwestern erst in den 60er-Jahren. Als Wallenberg im Juli 1944 in Budapest ankam, waren sie bereits in Auschwitz.
 
Seit 1992 bekommen Klara und Eva aus Deutschland eine Entschädigung für die Zeit im KZ. «Wir wollen keinen Luxus», sagt Klara, «aber wir kennen die Armut und wollen sie nie wieder erleben.» - «Und nie wieder darf ein Polizist an die Tür klopfen, um mich mitzunehmen», sagt Eva. Die Angst davor ist noch immer da. Ebenso wie der Reflex, sofort ans Auswandern zu denken.
 
Natürlich wissen die Schwestern, dass ihnen keine Gefahr droht. Aber sie verfolgen die Nachrichten. Sie sehen, dass Juden wieder die Schuld für die Krise gegeben wird, dass Juden in regierungsnahen Zeitungen wüst beschimpft werden und dass die Regierung auf rechtsextremen Druck hin das Denkmal des jüdischen Republikgründers entfernen lässt. Das lässt nichts Gutes erahnen. «Für uns ist es zu spät», sagt Klara zum Abschied, «aber wäre ich jünger, würde ich Ungarn verlassen.»
 
Und die nächsten Generationen? Denken die auch so? «Im Gegenteil», antwortet Eva, «meine Enkel haben gute Jobs und leben gern in Budapest. Und meine Tochter bekommt schon Heimweh, wenn sie nur drei Tage im Ausland ist.»