Carl Lutz rettete Tausende Juden vor dem Holocaust

3. Mai 2012

Ungarn erinnert sich in diesen Wochen mit einer Ausstellung im Budapester Historischen Museum an den Schweizer Diplomaten. In seiner Heimat ist er fast vergessen.

Am 19. Februar 1945 kletterten 25 Schweizer, Ungarn und Briten aus einem Budapester Luftschutzkeller. Über zwei Monate hatten sie in Kälte und Dunkelheit verbracht, während über ihnen ihr Domizil, die ehemalige britische Gesandtschaft, von den Nazis geplündert und von den Sowjets bombardiert wurde. An diesem Februartag aber ging der Krieg in Budapest zu Ende, und als Vizekonsul Carl Lutz mit seiner Gruppe im Hof des zerstörten Palais stand, liess er zuerst einmal alle in einer Reihe aufstellen, um ihre Rettung mit seinem Fotoapparat festzuhalten.

Heute ist dieses Foto im Budapester Historischen Museum zu sehen. Die temporäre Ausstellung «Ein Schweizer Diplomat in Budapest» zeigt Bilder, die der begeisterte Hobbyfotograf Lutz zwischen 1942 und 1949 in Ungarn schoss. In einer Vitrine sind dazu von Lutz ausgestellte Schutzbriefe zu sehen, die 60 000 Budapester Juden vor der Deportation in die Vernichtungslager der Nazis retteten.Das Foto der Gruppe aus dem Keller ist für Agnes Hirschi«Kernstück der Ausstellung». Hirschi ist selbst darauf zu sehen, als Sechsjährige im dunklen Trainingsanzug. Hinter ihr stehen ihre Mutter, Magda Grausz, und Gertrud Fankhauser-Lutz, die damalige Ehefrau des Vizekonsuls. Hirschi erinnert sich gut an diesen Moment: «Endlich Luft, endlich Tageslicht, es war wunderbar!» Ein paar Jahre später wird Lutz sich von Gertrud scheiden lassen, Magda heiraten und Agnes adoptieren. Heute lebt Hirschi in Bern. Für die Eröffnung der Ausstellung kam sie im April nach Budapest, und am gleichen Tag weihte sie auch eine Gedenktafel an jenem Gebäude ein, in dessen Keller sie mit der Lutz-Familie die letzten Kriegswochen verbracht hatte.

In diesem Jahr finden in Budapest zahlreiche Veranstaltungen statt, mit denen der Opfer des Holocausts ebenso gedacht wird wie jener ausländischer Diplomaten, die unter enormen persönlichen Risiken die Rettung Zehntausender Juden organisierten. Im Zentrum der Gedenkfeiern steht freilich nicht der Schweizer Lutz, sondern der Schwede Raoul Wallenberg. Aus Anlass seines 100. Geburtstags werden in Ungarn und Schweden Symposien veranstaltet, Festschriften gedruckt, Konzerte gegeben. Auch der «Marsch der Überlebenden» war dieses Jahr in Budapest Wallenberg gewidmet. Die Botschafter aus Israel und Schweden hielten Reden, ungarische, israelische und schwedische Fähnchen wurden verteilt. Das Schweizer Kreuz war nirgends zu sehen. «Das war schon schade», sagt der Schweizer Regisseur Daniel von Aarburg, der den Marsch filmte, «aber es zeigt, wie schlecht die Schweiz ihren Helden verkauft.»

Ein Film ehrt den Verkannten

Von Aarburg arbeitet an einem Film über Lutz. In den vergangenen Wochen führte er in Ungarn Interviews mit Menschen, die dank Schweizer Schutzbriefen überlebten, unter ihnen die Philosophin Agnes Heller, die Schriftsteller György Konrad und Ivan Sandor. In der Schweiz machte der Regisseur die Erfahrung, «dass viele Jugendliche den Namen Lutz noch nie gehört haben». Kümmere sich die Schweiz nicht mehr um das Erbe ihres mutigen Diplomaten, werde Lutz bald in Vergessenheit geraten, glaubt von Aarburg: Dann stehe nur mehr der Name Wallenberg für die Rettung der Budapester Juden.

Eine Veranstaltung der Budapester Central European University bestätigt seine Befürchtung. Die bekannte amerikanische Autorin Kati Marton stellte dort vor einigen Tagen die Neuauflage ihrer Wallenberg-Biografie vor. Darin beschreibt sie den Schweden als heroischen Einzelkämpfer, der «wie ein Engel vom Himmel kam» und danach in den Arbeitslagern der Sowjets spurlos verschwand. Lutz wird kein einziges Mal erwähnt. Dabei ging Wallenberg, als er im Juli 1944 in Budapest ankam, zuerst zum Schweizer Vizekonsul, liess sich das System der Schutzbriefe erklären und richtete nach Schweizer Vorbild Schutzhäuser ein. Warum verschweigt das Marton? «Natürlich gab es auch andere in Budapest, die Juden retteten», antwortet die Autorin, «aber ich habe über Wallenberg geschrieben.» Ihr Vater stehe seit jeher im Schatten von Wallenberg, sagt Agnes Hirschi.

Ausserhalb seiner Heimat wurde auch Lutz durchaus geehrt. In Deutschland erhielt er das Bundesverdienstkreuz, in Israel wurden er und seine erste Frau in die Reihe der «Gerechten unter den Völkern» aufgenommen. Ein Teil seiner umfangreichen Aufzeichnungen und Fotos aus jener Zeit liegt heute im Archiv der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem. Aber Lutz war Patriot, und nichts wäre ihm wichtiger gewesen als die Anerkennung der Heimat. Dass ihm die sein Leben lang verwehrt wurde, war die schlimmste Kränkung.

1975 starb Lutz verbittert, sein umfangreiches Archiv überliess er seiner Tochter. Sie fand in der Schweiz aber weder Interessenten für die Aufarbeitung noch Förderer für eine Carl-Lutz-Stiftung. Auch die Ausstellung «Visas for Life» über Diplomaten, die Juden retteten, stiess in der Schweiz auf wenig Interesse. Der Methodistenpfarrer Theo Tschuy schrieb in den 90er-Jahren eine umfangreiche Biografie, aber sie ist mittlerweile vergriffen. Die einzige Schweizer TV-Dokumentation über Lutz wurde im Tessin produziert und in der Deutschschweiz nie gezeigt. Daniel von Aarburg wollte diese Lücke schliessen und für das Fernsehen eine sogenannte Doku-Fiktion drehen. Doch SRF schreckte vor den hohen Kosten einer Mischung aus dokumentarischen und fiktionalen Szenen zurück. Jetzt arbeitet er an einer Kinofassung, die aber auch noch nicht finanziert ist.

Vom Aussenministerium gerügt

In der Schweiz ist lediglich ein kleiner Weg in der Berner Agglomeration nach Lutz benannt. Das Interesse von Museen oder Forschungseinrichtungen an Lutz sei noch immer gering, sagt AgnesHirschi. Nur das Aussenministerium, das Lutz nach seiner Rückkehr aus Budapest wegen Kompetenzüberschreitung gerügt hatte, zeige mittlerweile mehr Engagement. Mithilfe des EDA wird Hirschi demnächst eine neue Lutz-Biografie, ein Taschenbuch, präsentieren, in vier Sprachen herausgegeben vom Genfer Musée des Suisses dans le Monde.

Die Budapester Stadtverwaltung hat kürzlich einen Abschnitt des Donauquais nach Lutz benannt. Und die private ungarische «Carl-Lutz-Stiftung Budapest» hat im «Glashaus», dem Zentrum der Rettungsaktion, einen Gedenkraum eingerichtet. Das Haus steht neu unter Denkmalschutz, doch die Sanierung des Gebäudes scheitert noch an Geldmangel. «In Ungarn ist Lutz präsent», sagt Daniel von Aarburg. «Es wäre wirklich Zeit, dass sich auch die Schweiz an ihn erinnert.»