Chaos an der Grenze

10. September 2015

In den Lagern an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn droht eine humanitäre Katastrophe. 

Wie lange sitzen sie schon hier auf dem Asphalt? Die ungarischen Polizisten, die rund um die etwa 100 Flüchtlinge stehen, können es nicht sagen. Ahmed, der junge Syrer aus der Stadt Homs, auch nicht. «Zwei Stunden waren es sicher schon», sagt er und wendet sich wieder seiner Familie zu, die unter einem Tuch Schutz vor der stechenden Sonne sucht. Am frühen Vormittag überquerte die Gruppe auf einem Eisenbahngleis die Grenze zwischen Serbien und Ungarn nahe der Gemeinde Röszke. Doch zur Registrierung ins ungarische Lager wollten sie nicht. 


Flüchtlinge warten auf Busse, die sie in ein Lager bringen sollen. Foto: B. Odehnal

Dieses Lager in Röszke sei bei allen Flüchtlingen gefürchtet, sagt Ahmed, «zu viele Menschen, keine Luft und böse Polizei». Also machten sie sich zu Fuss auf den Weg Richtung Budapest, immer der Landstrasse entlang: junge Männer, Familienväter, junge Mütter und viele kleine Kinder. Nach etwa zehn Kilometer stoppte sie die Polizei. Die Flüchtlinge setzten sich auf die Strasse, die Polizisten kreisten sie ein, wendeten aber keine Gewalt an. Stattdessen wurde verhandelt, und es wurden alte Linienbusse aus Budapest herangefahren, um die Flüchtlinge schliesslich doch wegzubringen. 

So geht das nun jeden Tag in Röszke. Entlang der Grenze stampfen Arbeiter gerade die vier Meter hohen Stahlpfosten in die Erde, um aus dem provisorischen Stacheldrahtzaun, der derzeit die EU-Aussengrenze markiert, eine unüberwindbare Barriere zu machen. Dieser Zaun hat freilich bei Röszke eine etwa 15 Meter breite Lücke. Und durch diese Lücke marschieren die Flüchtlinge ungehindert. Von serbischer Seite werden sie von einem hohen Wachturm aus beobachtet, auf ungarischer Seite stehen zwei Polizisten und sehen den Flüchtlingen zu, manchmal winken sie auch: «Yes, go on.» 

Einige Flüchtlinge haben Flugblätter mit einer auf Englisch verfassten Information der Regierung in der Hand: «Ungarn ist gastfreundlich, aber wird die schärfsten Massnahmen gegen jene ergreifen, die versuchen, das Land illegal zu betreten. Der illegale Grenzübertritt wird mit Gefängnis bestraft.» 

Bis fast auf den Nullpunkt 

Aber am Bahngleis in Röszke wird niemand verhaftet. Die Polizisten stehen da und schauen, die Arbeiter bauen ihren Zaun, die Flüchtlinge marschieren weiter. Etwa einen Kilometer weiter auf ungarischem Territorium, an einem Bahnübergang, wartet dann die Polizei. Weil das nahe Aufnahmelager Röszke mit seinen Militärzelten hinter Stacheldraht völlig überfüllt ist und immer wieder Unruhen ausbrechen, wurde in den vergangenen Tagen zwischen verdorrten Sonnenblumenfeldern ein neues Lager errichtet. In der Nacht sinken die Temperaturen fast bis auf den Nullpunkt, es gibt zu wenig Wasser und viel zu wenige Toiletten. Überall liegen Müll und Essensreste herum, dazwischen spielen Kleinkinder. Beissender Uringeruch liegt in der Luft. 

Die freiwilligen, aus Deutschland, Österreich und Frankreich angereisten Helfer sind schockiert. Immer wieder fallen die Wörter: «humanitäre Katastrophe». Es gibt keine Informationen und keine Organisation. Ob und wer hier überhaupt etwas koordiniert, bleibt ein Geheimnis. Die Freiwilligen wissen es nicht, die Polizisten auch nicht. Und am wenigsten wissen die Flüchtlinge. 

Auch vom provisorischen Lager am Bahndamm sollen die Flüchtlinge so schnell wie möglich weggebracht und registriert werden. Aber das funktioniert nicht so, wie es der ungarische Staat gerne hätte. Es gibt zu wenige Autobusse und immer wieder machen sich Gruppen auf, um in den Sonnenblumenfeldern ab- und an der Landstrasse wieder aufzutauchen. Andere machen schon auf den Schienen kehrt und warten am Bahndamm oder in den Büschen die Nacht ab. Entlang der Strasse parken gegen Abend auffallend viele Privat­autos und Kleinbusse. Sie bringen Flüchtlinge nach Budapest oder sogar an die österreichische Grenze, die Tarife sind zuletzt allerdings deutlich gestiegen. Für eine Person verlangen die Menschenschmuggler nun bis zu 500 Euro. 

Noch knapp eine Woche soll dieser Zustand andauern. Am 15. September tritt ein neues Gesetz in Kraft, das den ille­galen Grenzübertritt mit Gefängnis bestraft. Ab diesem Zeitpunkt soll auch der Zaun fertiggestellt sein. Die ungarische Regierung schickt bereits jetzt Soldaten an die Grenze – im Zuge eines Manövers mit dem Namen «Entschlossenes Auftreten 2015».