Der naive Traum vom Bewältigen der Geschichte

2. Oktober 2012

Ein Zürcher Filmproduzent möchte eine slowakische Kleinstadt an ihre jüdische Vergangenheit erinnern. Und stösst auf überraschend grossen Widerstand.

Von Bernhard Odehnal, Komarno

Der Saal ist voll, doch Peter Scheiner ist enttäuscht. Weder der Museumsdirektor noch sein alter Freund, der Vizebürgermeister, sind gekommen. «Es interessiert sie nicht», murmelt der Zürcher Filmproduzent, «obwohl es ihre eigene Vergangenheit ist.» So zeigt Scheiner den Film, den er zusammen mit seiner Frau Susanne gedreht hat, im ungarischen Gymnasium der slowakischen Kleinstadt Komarno vor hundert Schülern und ihren Lehrern. «Naive Träume» heisst die halbstündige Dokumentation über eine kleine jüdische Gemeinde, die dem Untergang trotzt. Scheiner möchte den Menschen von Komarno ihre vergangene und jetzige Geschichte zeigen und dabei erfahren, «wie viel sie davon überhaupt wissen».

Vor dem Krieg lebten knapp 3000 Juden in der Stadt an der Donau, 10 Prozent der Bevölkerung. Sie hatten drei Synagogen, Schulen, Geschäfte. 1944 wurde das alles mit einem Schlag ausgelöscht. Die meisten Juden wurden von der ungarischen Gendarmerie deportiert und im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Andere wurden am Donauufer erschossen. Heute hat die jüdische Gemeinde 45 Mitglieder.

«Ganz weit weg»

Als Peter Scheiner kurz vor der Jahrtausendwende zum ersten Mal in Komarno drehte, herrschte Aufbruchstimmung. Eine Synagoge wurde mit Geld und Hilfe aus Zürich renoviert, die Söhne des Präsidenten der jüdischen Gemeinde gründeten eine jüdische Wochenzeitung. Sie hofften auf Zuwachs durch jüdische Emigranten aus Russland und der Ukraine. Doch als der Schweizer zehn Jahre später mit der Kamera zurückkam, erlebte er statt Euphorie Ernüchterung. Die Gemeinde zelebriert ihre Kultur weiterhin im Verborgenen. Als Scheiner seinen Film im Gymnasium zeigt, sind viele Schüler erstaunt, dass es in ihrer Stadt Juden gibt. «Wir wissen nichts von ihnen», gibt eine Schülerin zu, «das Thema ist für uns ganz weit weg.» Dabei steht die Synagoge gleich neben der Schule, und der Gemeindepräsident würde sich über Besuch freuen.

Peter Scheiner

Peter Scheiner vor seinem Elternhaus in Komarno

Komarno erinnert sich an seine Geschichte. Doch es ist eine andere, in der Juden nicht vorkommen. Bis zum Ende der Monarchie lag die Stadt in Ungarn, noch heute sind rund 60 Prozent der Bewohner Ungarn. 1919 wurde sie im Friedensvertrag von Trianon geteilt: Der kleinere Teil am rechten Donauufer mit dem Bahnhof blieb als Komarom bei Ungarn, das Zentrum mit Hafen und Kirchen am linken Ufer kam zur Tschechoslowakei. Die Bogenbrücke über die Donau war jahrzehntelang eine schwer überwindbare Grenze, erst seit dem Beitritt Ungarns und der Slowakei zum Schengenraum ist sie wieder eine echte Verbindung.

Flucht und Verurteilung

Mit den offenen Grenzen verschwand jedoch nicht der Nationalismus auf beiden Seiten. Im Gegenteil. Der von der Politik in Budapest manchmal verklausuliert und manchmal offen ausgesprochene Wunsch nach der Wiederherstellung Grossungarns wirkt auch in der ungarischen Minderheit in der Slowakei. Komarno hat ein neues Mahnmal zum Gedenken an die «Schande von Trianon», auf dem Hauptplatz hängt ein Foto des Diktators Miklos Horthy, der 1938 mit Hitlers Zustimmung die abgetrennten Gebiete wieder annektierte. Und im Festsaal des ungarischen Gymnasiums erinnert eine Marmortafel an einen Tag im Oktober 1956, als die Schüler «die ungarische Revolution heldenhaft verteidigten». Lange betrachtet Peter Scheinerdiese Tafel. Er lebte damals in Komarno, er war an diesem Tag an der Donau. Drüben, in Ungarn, war Revolution, doch die Grenze war gesperrt, und auf tschechoslowakischer Seite konnten die Menschen höchstens zu den Revolutionären hinüberrufen. Heute, wundert sich Scheiner, «machen sie eine Heldentat daraus».Scheiner wurde 1947 in eine jüdische Familie in Komarno geboren, sein Vater hatte das KZ überlebt, seine Mutter stammte aus Budapest. 1968 flüchtete er nach der Niederschlagung des Prager Frühlings über Österreich in die Schweiz. In seiner Heimat war er zuvor als Reporter für das slowakische Fernsehen tätig gewesen. Nach seiner Flucht verurteilte ihn das kommunistische Regime in Abwesenheit zu zweieinhalb Jahren Gefängnis. Das Urteil wurde erst nach der Wende aufgehoben.

In Zürich lernte Scheiner seine Frau Susanne kennen. Zusammen gründeten sie eine Firma, die Industrie- und Dokumentarfilme realisiert. Seit der Wende besucht er immer wieder seine alte Heimatstadt und sucht mit der Kamera nach Spuren jüdischen Lebens. Es ist auch eine Suche nach der eigenen Vergangenheit in einer feindlichen Umgebung: «Jude und Ungar zu sein, das war in der CSSR nicht gerade von Vorteil.»In der Erinnerung der Stadt kommt diese Zeit überhaupt nicht mehr vor. Das Gemeindemuseum von Komarno ist so gross, dass es ein Palais und zwei Aussenstellen belegt. Mehrere Säle sind den Prominenten der Stadt gewidmet, dem Komponisten Franz Lehár und dem Schriftsteller Mor Jokai. In anderen Sälen sind alte Tonkrüge, Fotos aus der Monarchie, Waffen und Uniformen ausgestellt. Die Zeit des Kommunismus fehlt in der Ausstellung völlig, und auch über die Juden von Komarno gibt es nichts.

Vor ein paar Jahren wollten Scheiners ihre erste filmische Dokumentation «Erinnerungen für die Zukunft» dem Museum zur Verfügung stellen, kostenlos. «Dann wäre wenigstens ein Film über die Juden gelaufen.» Der damalige Direktor lehnte ab: kein Bedarf. Auch sein Nachfolger zeigt wenig Interesse. Eine Vitrine für die Geschichte der Juden? Herzlich gern, lächelt Direktor Jozef Csürtörtöky, «jederzeit - wenn ich Geld bekomme». Doch die Stadt habe keine Mittel. Zudem müsste noch so viel restauriert werden. Dass der Film dann im Kino von Komarno gezeigt wurde, war das Verdienst der Schweizer Botschaft in Bratislava.Komarno wirkt friedlich, fast verschlafen. Doch in Gesprächen mit seinen Bewohnern wird schnell Misstrauen und Angst spürbar: Die Slowaken fürchten sich vor ungarischen Gebietsansprüchen, die Ungarn fühlen sich unterdrückt. Kleine symbolische Handlungen können heftige Reaktionen auslösen. Als im Garten einer ungarischen Kirche das Mahnmal an Trianon aufgestellt wurde, marschierten slowakische Nationalisten auf und drohten mit Krieg. Als der damalige ungarische Staatspräsident Laszlo Solyom eine Statue des ungarischen Nationalheiligen Stephan in Komarno einweihen wollte, blockierten slowakische Polizisten die Donaubrücke und schickten das Staatsoberhaupt nach Ungarn zurück.

Stark verwurzelte Vorurteile

Heute wird man in Geschäften in beiden Sprachen begrüsst. Doch auf Ämtern, in Spitälern und bei der Polizei müssen Ungarn mit Ungarn slowakisch sprechen. Das slowakische Sprachgesetz, beschlossen vor fünf Jahren von einer sozialdemokratisch-nationalistischen Koalitionsregierung, schreibt es so vor. Wer in Komarno eine ungarische Zweit-Staatsbürgerschaft annimmt, der verliert die slowakische. Auch das ist ein neues Gesetz. Einig sind sich Ungarn und Slowaken nur in ihrem Hass auf die Roma. «Niemand mag sie hier», sagt eine Lehrerin im ungarischen Gymnasium, «sie sind faul, stehlen und leben von unseren Steuern.» Den Einwand, dass Roma doch heute Opfer ähnlicher Vorurteile und Gewalt seien wie früher die Juden, quittiert sie mit Empörung: Dieser Vergleich sei absolut unzulässig.

In diese angespannte Atmosphäre kommt Scheiner und möchte über Juden reden. Er spricht zwar fliessend slowakisch und ungarisch, aber er wird dennoch nicht verstanden. Nicht einmal von seinen Jugendfreunden. Er ist Ausländer, der in Verdacht steht, Unruhe stiften zu wollen. Freundlich, aber bestimmt lassen sie ihn ins Leere laufen: der Bürgermeister, der Museumsdirektor. Als Scheiner seine «Naiven Träume» im Juni zum ersten Mal vorführen wollte, bekam er keinen Raum von der Stadt.

Auch die Vorführung im ungarischen Gymnasium endet nicht ganz harmonisch. Eine Lehrerin wird in der Diskussion als Tochter jüdischer Eltern «geoutet» und ist darüber gar nicht glücklich. Das könnte noch Schwierigkeiten geben, fürchtet sie. Eine andere jüdische Lehrerin sei von ihren Schülern beschimpft worden. Der Antisemitismus ist in der Slowakei nicht so alltäglich wie im Nachbarland Ungarn. Aber er ist ebenso stark verwurzelt. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass «die Juden hier so wenig Selbstbewusstsein haben und richtig verängstigt wirken», hat Scheiner beobachtet.

Vergessene Geschichte

Die drei Synagogen stehen heute noch. In einer ist ein Altersheim untergebracht, in einer anderen eine Squash-Halle. Immerhin wurden Gedenktafeln zur Erinnerung an den Holocaust auf Ungarisch, Slowakisch, Englisch und Hebräisch angebracht. Was sich hingegen im Keller unter dem heutigen Europaplatz ereignete, weiss fast niemand mehr. Scheiner zeigt auf das Eisentor hinter den Stufen, die in den Untergrund führen. «Hier unten waren 1944 die Juden inhaftiert, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden.» Rund um den Kellereingang wurden in den vergangenen Jahren bizarre Kitschbauten errichtet, aus Beton, aber mit pseudohistorischen Fassaden. Jedes Haus, erklärt der Stadtführer, sei im typischen Baustil eines EU-Landes errichtet. Es ist Komarnos Beitrag zur europäischen Einigung.

Der Zürcher Peter Scheiner aber schliesst mit seinem Versuch ab, einen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten. Nach Komarno will er nur mehr zurückkehren, «wenn ich von der Stadt eine Einladung bekomme».