Die Ausgestossenen

1. Februar 2013

Von den Rechtsextremen werden sie als Parasiten beschimpft, ein regierungsnaher Publizist ruft zu ihrer Vernichtung auf. Wie leben die 750 000 ungarischen Roma in diesem Klima?

Die Gasflasche ist leer. Ilona Molnár kochte gerade Maccheroni, als die Herdflamme mit leisem Zischen erlosch. Das war gestern. Nun kann Molnár ihrer Grossfamilie nur kalte Nudeln mit Quark servieren. Eine neue Gasflasche kann sie erst von der nächsten Rate der Sozialhilfe kaufen, «aber wir wissen nie, wann die kommt».


Adrienn Molnár mit ihrem Sohn Sándor (auf dem blauen Kissen) und weiteren Kindern der Grossfamilie. Foto: Krisztián Bócsi

Besonders bekümmert sieht Molnár deswegen nicht aus. Irgendwas fehlt immer in ihrem Haus am Rand der ungarischen Gemeinde Tarnabod. Gas für den Herd, Holz für den Ofen, Lebensmittel. Geld gibt es selten, Arbeit nie. «Es herrscht grosse Armut im Dorf», sagt Molnár. Warum das so ist, kann sie nicht erklären. Es habe mit dem Staat zu tun, «wir bekommen sehr wenig».In einem Zimmer schläft auf einer braunen Decke mit Pferdekopfmuster Sándor, der Sohn von Molnárs 17-jähriger Tochter Adrienn. Daneben liegt im Gitterbett Rikárdó, Ilonas jüngster Sohn. Ilona ist 37, ihr erstes Kind bekam sie mit 16. Ihr achtes, Rikárdó, kam vor eineinhalb Jahren auf die Welt. Er kam zu früh, war viel zu leicht, und die Ärzte gaben ihm kaum Überlebenschancen. Heute wirkt er mit kleinem Bäuchlein und dichten schwarzen Haaren ziemlich robust.

Eine Hetzkampagne

Sind die Molnárs nicht geeignet, unter Menschen zu leben? Der bekannte ungarische Publizist Zsolt Bayer sieht es so. Er hat in einer rechten Tageszeitung zur Vernichtung der Roma aufgerufen: «Sie sollen nicht existieren, die Tiere. Nirgendwo. Das muss man lösen - sofort und mit allen Mitteln!» Anlass dazu war, dass ein junger Sportler in Budapest niedergestochen worden war - vermutlich von einem Rom. Der Kommentar war aber so formuliert, dass damit alle Roma gemeint sein konnten. So, wie die rechtsextreme Partei Jobbik jedes von Roma begangene Verbrechen zu «Zigeunerkriminalität» erklärt und damit die gesamte Minderheit in Haftung nimmt.

Dass in einem europäischen Land öffentlich zur Vernichtung einer Minderheit aufgerufen wird, ist ungewöhnlich. Protest kam in Ungarn aber nur von der Opposition und von Menschenrechtsorganisationen. Die Regierungspartei Fidesz wiegelt ab, Regierungschef Viktor Orban schweigt. Zsolt Bayer ist Gründungsmitglied von Fidesz und organisiert Massenkundgebungen für Orban. Zum Dank geniesst er Narrenfreiheit. Ungarns Regierung hat zwar eine Roma-Strategie, mit der sie Arbeitslosigkeit und Diskriminierung bekämpfen will. Gleichzeitig akzeptiert sie den Aufruf zur Tötung von Roma und vermittelt die Botschaft: Rassistische Hetze ist erlaubt, wenn sie die richtige Minderheit trifft. Von der Aufregung über den Zeitungskommentar hat Familie Molnár nichts mitbekommen. Im Fernsehen schauen sie nur Castingshows und Soapoperas, Zeitungen kommen nicht ins Dorf. Auch wenn Tarnabod nur rund 100 Kilometer nordöstlich von Budapest liegt, ist die Politik doch sehr weit weg, die Debatte über gesellschaftlichen Einbezug oder Ausschluss der Roma ebenfalls. Wichtig ist hier die Frage, wann das Geld zum Kauf einer neuen Gasflasche reicht. Vom «aggressiven Charakter», den die Rechtsextremen den Roma unterstellen, ist in Tarnabod nichts zu spüren. Im Gegenteil: Eine drückende Atmosphäre der Antriebslosigkeit liegt über dem Dorf. Die österreichischen Soziologen Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda haben dieses Phänomen schon in der Zwischenkriegszeit beschrieben: Armut und Langzeitarbeitslosigkeit führen nicht zu Wut und Revolte, sondern zu Hoffnungslosigkeit und Apathie. Wer einmal in diesem Zustand ist, findet kaum mehr heraus.

In den meisten ungarischen Gemeinden sind die Roma eine Minderheit, die in ghettoartigen Siedlungen am Dorfrand leben. Von den 820 Einwohnern Tarnabods aber sind 95 Prozent Roma. Nur der Bürgermeister, die Verkäufer im Supermarkt, einige Rentnerinnen und die Lehrer sind «Weisse», wie die Roma hier Nicht-Roma nennen. Rund um das Dorf erstreckt sich flaches Land, dennoch ist es isoliert, als ob es in einem engen Alpental läge. Auf der schmalen Landstrasse fährt zweimal täglich ein öffentlicher Bus in die nächste Kleinstadt. Das Hilfswerk des Malteserordens betreibt im Dorf eine Kinderkrippe, einen Kindergarten, eine Grundschule (bis zur achten Klasse) und eine Werkstatt, in der alte Elektrogeräte in Einzelteile zerlegt werden. 30 Roma arbeiten hier zum Mindestlohn. Es ist der einzige Arbeitgeber weit und breit.

Wenigstens müssten sie sich hier nicht vor der Ungarischen Garde fürchten, sagen die Roma: Da es keine Weissen mehr gebe, hätten die Rechtsextremen keinen Grund, zu deren «Schutz» aufzumarschieren. Trotzdem war Tarnabod einmal Ziel rechtsextremer Anschläge. Im September 2008 wurden fünf Roma-Häuser beschossen und mit Brandsätzen beworfen. In anderen Dörfern wurden bei der gleichen Anschlagsserie sechs Roma ermordet, in Tarnabod kam niemand zu Schaden.


Tarnabod. Foto: B. Odehnal

Auf der Strasse zum Haus der Molnárs sammelt sich braunes Schmelzwasser in tiefen Pfützen. Vor dem Eingang stehen ein blauer Mülleimer und ein grünes Velo ohne Pedale im Morast. Die Nachbarhäuser sind Ruinen, ihre Besitzer haben das Dorf verlassen. Die Molnárs wissen nicht, wohin. Als sie sich das Holz der alten Dachstühle als Brennmaterial holen wollten, wurden sie wegen Diebstahls verzeigt.

Die Regierung Orban hat die Strafen für Kleinkriminalität drastisch erhöht. Auch Minderjährige können für Diebstahl zu Gefängnis verurteilt werden. Die Null-Toleranz-Politik habe das Misstrauen zwischen Mehrheit und Minderheit erhöht, schreibt der Journalist Norbert Mappes-Niediek im Buch «Arme Roma, böse Zigeuner». Das ungarische Helsinki-Komitee belegte, dass die Polizei nach ethnischen Kriterien straft: Die Bussen für Vergehen beim Velofahren (ohne Licht, kein Reifenprofil) treffen zu 97 Prozent Roma.Nach den Anschlägen 2008 verhaftete die Polizei in Tarnabod zuerst drei junge Roma aus dem Ort. Sie sassen neun Monate in Untersuchungshaft. Erst als vier Neonazis als mutmassliche Täter identifiziert wurden, kamen sie frei. Eine Spezialeinheit der Polizei sicherte nach den Anschlägen die Ortseinfahrten. Die Roma empfanden das als Einschüchterung: «Wir hatten mehr Angst vor ihren schwarzen Uniformen als vor weiteren Neonazi-Attacken», sagt Ilona Molnár.Das Haus der Molnárs hat ein Dach, Fensterscheiben und sogar eine Waschmaschine. Alte Matratzen auf Kisten dienen als Bänke und Betten. Wenn die Molnárs essen, halten sie die Teller in den Händen. Einen Tisch gibt es nicht. In den vier Zimmern, je 20 Quadratmeter gross, wohnen die Eltern und ihre acht Kinder. Dazu kommen zwei Schwiegersöhne und zwei Enkel. In einem Zimmer steht neben dem Holzofen ein altes Fernsehgerät, in einem anderen ein Elektroradiator. Dünne Vorhänge ersetzen Zimmertüren. Wenn am Abend alle zu Hause sind, wird es eng und sehr laut, aber «das sind wir gewohnt», sagt Ilona Molnár. Privatsphäre ist ein Luxus, den sich hier niemand leisten kann.

Arbeit hat nur der Vater

Die Molnárs gehören keineswegs zu den Ärmsten im Dorf. Im Unterschied zu anderen haben sie Strom und Wasser. Das Haus gehört ihnen, aber sie müssen einen Kredit abzahlen, monatlich 50 000 Forint (210 Franken), etwa die Hälfte der Sozialhilfe. Der älteste Sohn bekommt Arbeitslosengeld und Vater Ferenc einen kleinen Lohn in der Werkstätte für Elektroschrott. Aber mehr als umgerechnet 500 Franken pro Monat hat die Familie nie zur Verfügung.


Ilona Molnár (zweite v. links) und ihre Familie. Foto: Krisztián Bócsi

In ihrer Roma-Strategie hat die Regierung Orban konkrete Ziele formuliert: 30 000 junge Roma sollen mehr als nur die Grundschule besuchen. Für 5000 talentierte Gymnasiasten sollen Plätze an Universitäten reserviert werden. 10 000 arbeitslose Roma sollen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden. Aber wo sollen diese Jobs entstehen? Ungarns Wirtschaft schrumpft: Sozialleistungen werden gekürzt und mit einem Beschäftigungsprogramm verknüpft.

In Tarnabod musste eine Arbeitslosenbrigade die frisch renovierte Grundschule putzen. Weil nicht viel zu tun war, lungerten die Männer auf dem Pausenplatz herum, tranken und boten den Kindern Zigaretten an. Der Einsatz wurde abgebrochen. Auch der Versuch, obdachlose Roma aus Budapest in Tarnabod anzusiedeln, war kein Erfolg. Die Neuen sollten Felder bestellen, Gemüse züchten. Aber sie hatten weder Grundkenntnisse der Landwirtschaft, noch waren sie regelmässige Arbeit gewohnt.Tarnabod soll einmal schön gewesen sein, mit blumengeschmückten Häusern und einer Kolchose, die auch den Roma Arbeit gab. Nach der Wende wurden die Felder privatisiert, die neuen Eigentümer machten Brachland daraus (wahrscheinlich mit Förderung der EU). Die weissen Ungarn zogen weg, die Roma blieben.In den Wintermonaten liegen Nebel und Rauch über der Dorfstrasse. Aber viele Familien müssen ohne Heizung auskommen. In der Kinderkrippe gibt es ein warmes, grosses Zimmer mit einem Spielteppich und einer roten Rutsche, es gibt Stofftiere und Kinderbücher, es gibt warmes Wasser und ein sauberes WC. Die Malteser haben der Krippe den Namen «Sicherer Beginn» gegeben. Als Katalin Kálosi vor zweieinhalb Jahren die Leitung übernahm, sei die Lage im Dorf noch deutlich besser gewesen, sagt sie. «Heute kommt die Sozialhilfe zu spät oder gar nicht.» Und der Arzt, der früher zweimal pro Woche kam, lässt seine Sprechstunden oft ausfallen.

Keine Hilfe zur Selbsthilfe

Inmitten der Kinder sitzt Ana Villanueva, eine junge Spanierin, die in der Krippe ein Praktikum macht. Im September kam sie an und kann es noch immer nicht fassen, wohin sie das Leben verschlagen hat. Vieles werde sie nie verstehen, sagt sie: Die Unterwürfigkeit der Roma-Frauen, die nicht mehr wollen als einen Mann und viele Kinder. Oder den schamlosen Sexismus der Männer. Am wenigsten versteht die spanische Sozialarbeiterin aber das Desinteresse des ungarischen Staates an der Minderheit. Jeder spreche über die Roma, niemand mit ihnen. Wo sind Programme zur Stärkung des Selbstbewusstseins für Frauen, zur Integration der Roma-Kinder in die normalen Schulen? Es gibt sie auch in Ungarn, aber viel zu wenig für die 750 000 Roma. In Tarnabod fehlten die Ideen, die Hilfe zur Selbsthilfe, sagt Ana: «Hier wird gespendet, gespendet. Aber das macht Menschen abhängig und treibt sie in die Isolation.»


Die Werkstätte für Elektroschrott in Tarnabod. Foto: B. Odehnal

Ferenc Molnár hat in der Werkstätte für Elektroschrott die Devisentafel einer Bank zerlegt und geht über die schlammige Dorfstrasse nach Hause. Der Herd ist noch immer kalt, aber im Holzofen brennt Feuer. Daneben schlafen der kleine Sándor und sein kleiner Onkel Rikárdó. Was würde seine Mutter Ilona an ihrem Leben am liebsten verändern? Sie überlegt und zuckt mit den Schultern. In Tarnabod gibt es keine Wünsche. Nur ihre Tochter Adrienn hat einen Traum: Sie möchte TV-Moderatorin werden, im langen Kleid vor Publikum stehen. So, wie sie es in den Castingshows sieht: «Alle sagen, dass ich viel und gut spreche. Ich wäre dafür geeignet.»

Adrienn war 16, als sie schwanger wurde. Jetzt möchte sie die Grundschule beenden. Auf ihren kleinen Sohn soll inzwischen der Vater aufpassen. Noch ein Kind möchten sie nicht haben: «Wir müssen doch auch an uns denken.»