Dorf der Frankenopfer

10. Mai 2013

In der Nähe von Budapest entsteht auf der grünen Wiese eine Siedlung für Familien, die ihre Fremdwährungskredite – insbesondere in Franken – nicht zurückzahlen können.

Die Sonne brennt auf die ungarische Tiefebene, und der trockene Wind weht feinen Staub über die Felder. Zwei Wachleute einer privaten Security-Firma sitzen vor einem Container. Als sich ein Auto nähert, spannen sie ein Plastikband über die Strasse. Neben dem Band sind ein Stoppschild und eine Verbotstafel aufgestellt: Durchfahrt verboten. Durchgang verboten. «Machen Sie sich nichts daraus», sagt ein Wachtmann, «hier gibt es ohnehin nichts zu sehen.»
Zutritt verboten: Die neue Siedlung für überschuldete Familien wird gut bewacht. Foto: B. Odehnal

Hinter der Absperrung liegt der «Wohnpark Ócsa»: Einfamilienhäuser mit je 50, 60 oder 70 Quadratmeter Wohnfläche. Zu jedem Haus gehören tausend Quadratmeter Garten. Die Häuser sind weiss getüncht, haben rote Dächer und braune Fensterrahmen. Durch die Siedlung führen asphaltierte Strassen und Radwege, es gibt auch eigene Behindertenparkplätze. Nur Menschen gibt es hier nicht.

Auffanglager für Opfer des starken Schweizer Frankens

80 neue Häuser stehen im Wohnpark Ócsa, in den nächsten Jahren soll die Siedlung auf 500 Häuser erweitert werden. Errichtet werden sie ausschliesslich für Familien, die ihre in Fremdwährungen aufgenommenen Hypothekarkredite nicht zurückzahlen können und deshalb aus ihren Wohnungen oder Häusern ziehen müssen. Die meisten Ungarn haben Kredite in Franken aufgenommen. Der Wohnpark Ócsa ist also eine Art Auffanglager für Opfer der starken Schweizer Währung. In diesen Tagen übergibt die Baufirma Veszprember die Häuser an die staatliche Verwaltung. Die wiederum hat den Malteserorden beauftragt, die neuen Bewohner auszusuchen. Die ersten Familien sollen im Sommer hier einziehen.

Ócsa liegt rund zwanzig Kilometer südöstlich von Budapest, mit dem Auto braucht man eine halbe Stunde, mit dem Zug eine Stunde in die Hauptstadt. Es ist ein typisches ungarisches Dorf mit zwei Beizen, Schulen und einem Supermarkt. Dass hier in die Nähe bald bis zu zweitausend Menschen zuziehen werden, beunruhigt die Dorfbewohner nicht: «Wir werden sie kaum bemerken», glaubt eine Verkäuferin, «die Siedlung liegt ja viel zu weit weg.»

Wie ein Flüchtlingslager

Der Wohnpark liegt sechs Kilometer vom Dorf entfernt und hat keine eigene Infrastruktur, nicht einmal einen eigenen Lebensmittelladen. Ein Bus soll die Siedlung mit Ócsa verbinden, die Haltestelle gibt es schon, einen Fahrplan noch nicht. Auch ein Radweg wurde angelegt, er endet aber nach 200 Meter an der Landstrasse. Vom blauen Container der Security aus betrachtet, wirkt der Wohnpark eher so, als hätte hier die UNO Notunterkünfte für Kriegsflüchtlinge oder Erdbebenopfer gebaut. In den Medien wird er auch als Ghetto bezeichnet.


Irgendwann soll hier auch einmal ein Supermarkt gebaut werden. Foto: B. Odehnal

Der Bau der Siedlung habe 6 Milliarden Forint (25 Millionen Franken) gekostet, schreibt die «Budapester Zeitung». Das Innenministerium gibt die Errichtungskosten mit 2,3 Milliarden Forint an. Verwaltet wird der Wohnpark von der Nationalen VermögensverwaltungsGesellschaft. Die kleineren Häuser sind für Familien mit zwei und drei Kindern, die grössten Häuser für Familien mit vier oder mehr Kindern reserviert. Die Monatsmieten werden im ersten Jahr zwischen 68 Franken für 50 Quadratmeter und 86 Franken für 70 Quadratmeter liegen. Gasanschluss hat die Siedlung nicht, geheizt wird mit Holz. Strom kann nur über eine Prepaid-Karte bezogen werden. So soll eine neuerliche Verschuldung verhindert werden.

Etwa eine Million Ungarn haben Fremdwährungskredite aufgenommen, die meisten davon in Franken, als die Schweizer Währung zum Forint noch 1 zu 150 stand. Heute ist ein Franken 245 Forint wert, und Hunderttausende Kreditnehmer stehen vor dem Ruin. Auch die Banken zahlen für ihre leichtfertige Kreditvergabe: 2011 verabschiedete die Regierungspartei Fidesz ein Gesetz, das es Frankenkreditnehmern erlaubt, ihre Schulden zum fixen Kurs von 180 Forint zurückzuzahlen. 245 000 Ungarn haben dieses Angebot angenommen. Die Differenz zum realen Kurs müssen die Banken zahlen. Das Gesetz trifft besonders die in Ungarn stark vertretenen österreichischen Banken. Eine der grössten, die Raiffeisenbank International, denkt laut über den Rückzug aus Ungarn nach.

Wer so hoch verschuldet ist, dass er seinen Kredit nicht einmal zum günstigen Frankenkurs zurückzahlen kann, dem droht die Zwangsversteigerung von Haus und Hof. Während der kalten Wintermonate hatte die ungarische Regierung Räumungen per Dekret verboten. Dieses Verbot läuft jetzt aus. Die Verzweiflung treibt die Menschen auf die Strasse und in die Arme rechtsextremer Gruppen. Diese Woche demonstrierten in Budapest mehrere Hundert Menschen für einen generellen Schuldenerlass. Sie trugen neofaschistische Symbole und wurden von «national empfindenden Motorradfahrern» begleitet.

Keine Schule, keine Läden

Wer ein Haus im Wohnpark Ócsa will, wird von den Maltesern einer strengen Prüfung unterzogen. Bis jetzt haben erst 20 Familien bestanden. Hoffnungslose Fälle werden abgewiesen. Akzeptiert werden nur Menschen, für die «der Einzug in Ócsa ein echter Neuanfang sein kann», sagt der Sprecher der Malteser, Tamás Romhányi.

Leicht wird dieser Neuanfang sicher nicht. Im Wohnpark Ócsa treffen die Ankömmlinge auf andere Frankenopfer, denen es mindestens genauso schlecht geht. Wer in die Hauptstadt zum Arbeiten pendeln will, braucht entweder ein Auto oder zumindest ein Velo für die Fahrt zum Bahnhof. Rund um die Siedlung gibt es nichts. Keine Schule, kein Geschäft, keinen Sportplatz, kein Gasthaus. Dort, wo heute der blaue Container der Security steht, soll ein Shoppingcenter entstehen. Irgendwann. Bis jetzt ist noch nicht einmal die Baugrube ausgehoben. Zumindest den Maschendraht rund um die Siedlung hat man unlängst abgebaut. So ein Zaun, meint einer der Wachleute, habe doch zu sehr nach Ghetto ausgesehen.