Fast alle sind arbeitslos

26. November 2014

Vilmany gehört zu Ungarns ärmsten Gemeinden. Hier setzt das Hilfswerk Heks seine ­Roma-Strategie um.

Kurz nach 16 Uhr wird das finstere Vilmany lebendig. Buben und Mädchen kommen aus der Grundschule, laufen lärmend und lachend über die Hauptstrasse des ungarischen Dorfs an der slowakischen Grenze. Kaum sind sie beim Gemeindehaus der reformierten Kirche angelangt, werden sie leise und trotten artig in die geheizte Stube, wo Pastorin Zsuzsanna Samu wartet. Erst wird gemeinsam ein Kirchenlied gesungen, dann erzählt Samu, wie Käse und Quark hergestellt werden und wie eine Kuh gemolken wird.

 
Zsuzsanna Samu mit Kinder im protestantischen Gemeindehaus Vilmany. Foto: Andras D. Hajdu

Vilmany liegt 30 Kilometer nördlich der Industriestadt Miskolc und gehört zu den ärmsten Gemeinden Ungarns. 90 Prozent der 1600 Einwohner sind Roma, fast alle sind arbeitslos, manche leben in Ruinen. Alkoholismus, Schlägereien oder Diebstahl bringen die Männer ins Gefängnis, zurück bleiben blutjunge Mütter mit vielen Kindern. Samu und ihr Mann leben seit zehn Jahren in der Region und betreuen vier reformierte Gemeinden. Zuvor waren sie ein Jahr in Zürich an der Langstrasse in der Sozialarbeit tätig. Jetzt setzen sie die Roma-Strategie des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz (Heks) in Ungarn um.

Das Gemeindehaus ist am Vormittag offen für junge Mütter mit ihren Babys. Sie lernen Wissenswertes über Hygiene und Ernährung und wie sie ihre Bedürfnisse in der Familie artikulieren können. Am Nachmittag kommen Kinder und Jugendliche zum Lernen und Spielen. Einige Mädchen aus Vilmany hätten schon einen Platz an der pädagogischen Hochschule oder einen Job in der Stadt bekommen, erzählt Samu stolz: Die Vorbildwirkung solcher Erfolgsgeschichten könne nicht hoch genug geschätzt werden.


Haus einer Romafamilie in Vilmany. Foto: Andras D. Hajdu

In der Roma-Strategie des Heks werden auch die Nicht-Roma der Kirchengemeinden in die Verantwortung genommen: «Sie müssen für die Situation der Roma sensibilisiert werden», sagt der Schweizer Projektleiter Matthias Herren, «und selbst den Kontakt zu Roma suchen.» Demnächst sollen 15 ungarische reformierte Kirchgemeinden in das Projekt eingebunden werden. In Budapest wurde dafür eine Koordinatorin angestellt. Das Heks finanziert das Projekt jährlich mit 180 000 Franken. Zusätzlich müssen die ungarischen Gemeinden Eigenfinanzierungen von 20 bis 40 Prozent der Projektkosten leisten.

«In Jahrzehnten denken»

Das Ende der Projekte ist nicht fixiert, denn «wenn wir in diesem Bereich Erfolg haben wollen, müssen wir in Jahrzehnten denken», sagt Herren. Von der EU oder dem Schweizer Erweiterungsbeitrag finanzierte Grossprojekte laufen lediglich zwei bis drei Jahre. Für Herren ist das ein Schwachpunkt: «In dieser Zeit kann man keine vertrauensvollen Beziehungen zu Roma aufbauen.» Samu brauchte mehrere Jahre, bis sie Zugang zu Familien fand, die aus Scham niemals Fremde und manchmal nicht einmal den Arzt über ihre Schwelle lassen. Viele Roma sind aus anderen Gemeinden zugezogen. Sie sind weder in der Region noch in der Roma-Kultur verwurzelt. Romani spricht hier niemand.

Im Gemeindehaus von Vilmany geht der Nachmittagsunterricht zu Ende. Bevor die Kinder nach Hause gehen, bekommen sie Tee und Wurstbrote. Zsuzsanna Samu macht stets ein paar Brote mehr. Sie kennt den Hunger ihrer Schützlinge. Für einige wird es an diesem Tag das letzte Essen sein. Zu Hause gibt es nicht einmal ein Stück Brot.