Gott vergibt, ein Tiroler nie

28. Juli 2012

Der Tod eines Wilderers vor 30 Jahren lässt ein Dorf nicht zur Ruhe kommen.

Nein, diese Geschichte ist nicht vorbei. Auch wenn sie eigentlich schon 30 Jahre zurückliegt. Aber in den tiefen Tälern Osttirols vergisst man nicht so schnell. Und so musste gar die Polizei ausrücken, als in Innervillgraten letzte Woche Johann Schett zu Grabe getragen wurde. Denn Schett hatte zwar Freunde im Villgratental. Aber auch Feinde. Und sein ärgster Feind will ihm nicht einmal die letzte Ruhe gönnen.

So stand Hermann Walder am Friedhof dicht neben dem Begräbniszug, zu dem er nicht eingeladen war. In den Händen hielt er eine Tafel mit dem Foto seines Bruders Pius, die Schusswunde im Genick war darauf gut zu sehen. Unter das Foto schrieb Hermann Walder: «Am 21. Juli 2012 hat der Satan den Mörder für seinen Meuchelmord an Pius Walder am 8. 9. 1982 an der Gurgel erfasst und in die Hölle unter die Glut befördert.»

Vier Polizisten hielten sich bereit, weil man fürchtete, dass es der zornige Walder nicht beim schriftlichen Protest belassen werde. Doch die beruhigende Aufforderung «Hermann, lass es gut sein», zeigte Wirkung. Der bärige Tiroler mit schneeweissen Haaren und dichtem schwarzen Schnauz rief den Trauernden noch erbost zu, was denn das für eine christliche Gemeinde sei, die «einen Meuchelmörder mit allen Ehren zu Grabe trägt». Dann verschwand er talauswärts. Aber ganz Innervillgraten wusste: Diese Geschichte ist immer noch nicht vorbei.

Begonnen hatte sie mit einem Streit, der eher in die romantische Literatur als ins 20. Jahrhundert passen würde. Die vier Brüder Walder waren im Villgratental bekannt für raue Umgangsformen und ihre Leidenschaft für nicht genehmigte Jagdzüge. Anders gesagt: Sie waren Wilderer. Für sie gehörten der Wald, die Berge und das Wild allen Bewohnern, nicht nur den Grundbesitzern und ihren Jägern. Die Jäger freilich sahen das anders, und vor allem Johann Schett hatte es auf die Wilderer abgesehen.

Als Pius Walder in der Nacht des 8. September 1982 bei einem Weiler namens Kalkstein zuhinterst im Tal mit russgeschwärztem Gesicht auf die Pirsch gehen wollte, wurde er von Schett und einem Kameraden überrascht. Schett schoss mehrmals auf den Flüchtenden und traf ihn in den Hinterkopf. Die Brüder des Opfers werteten das als Mord. Auf den Grabstein liessen sie unter das Relief von Pius mit seiner charakteristischen Elvis-Tolle den Spruch meisseln: «Ich wurde in Kalkstein von zwei Jägern aus der Nachbarschaft kaltblütig beschossen und vom 8. Schuss tödlich getroffen.» Am offenen Grab von Pius schworen sie Rache.

Ein Jahr danach kam es zum Prozess gegen den Jäger. Die Geschworenen sprachen ihn nur der Körperverletzung mit tödlichem Ausgang für schuldig. Der Richter, ebenfalls ein Jäger, verurteilte ihn zu drei Jahren Haft. Nach einem Jahr kam Schett frei. Die Jagd ist heute in Österreich ziemlich in Verruf geraten. Nicht wegen des Tötens von Tieren, sondern weil sich Jagdgesellschaften als Zentren politischer Korruption entpuppten. Damals aber waren Jäger in Österreich (und ganz besonders in Tirol) noch sakrosankt. Wie im Mittelalter galten sie als verlängerter Arm gräflicher oder kirchlicher Herrschaft. Niemand traute sich in Tirol, das Urteil infrage zu stellen, niemand traute sich, für die Brüder Walder Partei zu ergreifen. Sie wurden zu Geächteten im eigenen Dorf.

Ihre Geschichte lebte weiter. Das österreichische Fernsehen produzierte eine «Tatort»-Folge mit dem Titel «Elvis lebt», die sich in der Beschreibung dreier wildernder Brüder stark an die Osttiroler Wirklichkeit anlehnte. Und das Wilderer-Museum in Oberösterreich widmet den Walders eine kleine Ausstellung.

Heute lebt noch einer der vier Brüder. Fast schon schien die Geschichte vergessen. Doch das Begräbnis des Jägers Schett, der mit 71 Jahren an einer Krankheit starb, riss alte Wunden auf.