Himmlische Schwingungen über Budapest

2. Juli 2010

Die Ungarn suchen ihre Zukunft in einer obskuren Mythologie

Bernhard Odehnal, Budapest
 
Lange, düstere Gänge, wuchtige Kronleuchter, Statuen finster blickender Könige und Edelmänner: Das ungarische Parlament ist kein freundlicher Ort. Der wuchtige, neogotische Bau am Budapester Donauufer wirkt abweisend von aussen und einschüchternd im Inneren. Hier hat sich die Elite ein Denkmal ihrer Macht gesetzt und das Zentrum dieser Macht ist – eine Krone. Unter der riesigen Kuppel ist sie in einer Vitrine ausgestellt, mit Zepter und Schwert. An manchen Tagen werden diese Relikte einer längst vergangenen Epoche von Soldaten bewacht. Sie tragen die grünen Husarenjacken der ehemaligen königlichen Leibgarde, in der Hand die blanken Säbel. Die Stephanskrone ist für viele Ungarn mehr als ein wertvolles Stück Metall. Sie ist eine magische Kraft, ein Heiligtum, sie ist Symbol für die Einheit des Landes, sie soll sogar den Weg in die Zukunft weisen.

Das klingt pathetisch, esoterisch? Nicht in Budapest. Dort wird die «Lehre von der Heiligen Krone» in den Medien und im Parlament wieder einmal besonders eifrig und ernst diskutiert. Es könnte sogar sein, dass diese Lehre in die neue Verfassung aufgenommen wird, die Regierungschef Viktor Orban gerade ausarbeiten lässt. Dabei ist es gar nicht so einfach, diese Lehre zu beschreiben. Sie hat etwas mit der Einheit des Landes zu tun und mit dem König, der für diese Einheit sorgen muss und gleichzeitig dem Adel und der Kirche dienen soll. «Demokratie und die Lehre der Heiligen Krone schliessen einander nicht aus», versichert ein Historiker in einer Budapester Wochenzeitung. Doch die Erklärungen bleiben diffus und widersprüchlich. Liefert uns die Geschichte eine Erklärung?

Wer die Krone als Erster trug, ist ungewiss. Der heilige Stephan (Szent Istvan), der 1038 verstorbene, erste ungarische König, war es jedenfalls nicht. Wahrscheinlich stammt sie aus dem 12. Jahrhundert. Nicht geklärt ist auch, warum das kleine Kreuz auf ihrer Spitze schief steht: Es könnte eine Verneigung vor Gott darstellen oder eine Transportbeschädigung sein.

Nach dem Ende der Monarchie beriefen sich die Diktatoren Horthy und Szalasi auf die Lehre der Krone, setzten sie sich aber nicht auf den Kopf. Das wertvolle Stück blieb in der Schatzkammer. Als 1945 die Rote Armee anrückte, brachten die ungarischen Faschisten die Krone gemeinsam mit geraubtem jüdischem Gold in die US-Zone nach Österreich. Die Amerikaner verwahrten sie in Fort Knox und gaben sie erst 1978 dem ungarischen Staat zurück. Im Jahr 2000 liess sie der damalige Premier Viktor Orban in einer pompösen Zeremonie voller Nationalkitsch aus dem Nationalmuseum ins Parlament überführen.

An der Symbolik gab es nichts zu deuten: Orban stellte sich in die Reihe der ungarischen Könige. Die Ungarn sahen das nicht so eng und wählten ihn zwei Jahre später ab. Danach regierten acht Jahre die Sozialisten, doch die Krone blieb im Parlament.

Nicht nur Viktor Orban, seit einem Monat wieder Regierungschef, fühlt sich von der monarchischen Macht angezogen. Als die Abgeordneten der rechtsextremen Partei Jobbik vor Monatsfrist zum ersten Mal das Parlament betraten, verbeugten sie sich im Kuppelsaal vor der Krone. Esoteriker in Jobbik-Kreisen halten sie für ein Empfangsgerät himmlischer Schwingungen und das schiefe Kreuz für die Antenne. Die Ideologen am rechten Rand sehen die Krone hingegen als Beweis, dass die Ungarn nicht von finno-ugrischen Stämmen aus Sibirien, sondern von den Skythen abstammen – so wie angeblich auch Jesus Christus. Deshalb könne man Jesus als ersten ungarischen König betrachten.

«Die Heiligkeit der Heiligen Krone leitet sich nicht aus der Vergangenheit her, sondern aus der Zukunft», heisst es im Ehrenkodex der paramilitärischen Ungarischen Garde: «Sie ist ein Siegel, das den einzigartigen Bund zwischen ungarischer Nation und Gott ausdrückt.» Und das könnte bald auch in der ungarischen Verfassung stehen.