Plötzlich ist die Grenze zu

1. September 2015

Nur einen Tag liess Ungarn die Flüchtlinge nach Westen ziehen. Jetzt müssen sie wieder unter menschenunwürdigen Bedingungen vor dem Budapester Ostbahnhof lagern. 

Unvermittelt kommt Bewegung in die Menge, die gerade noch wie betäubt in der Unterführung beim Budapester Ostbahnhof lag. Junge Männer springen auf, eilen die Treppen hoch, sprinten zum Bahnhofseingang. Doch dort kommen sie nicht weiter. Die ungarische Polizei hat ihre Truppen zusammengezogen und versperrt den Eingang. Nur Ungarn und Touristen dürfen durch. Keine Flüchtlinge. Die stehen nun vor dem Tor und schreien, dass sie nach Deutschland wollen: «I want to go to Germany, train station is no place for me» oder auch «We are humans» oder einfach «Freedom». Doch die Polizei bleibt hart, und die Flüchtlinge weichen zurück in die Unterführung, wo Frauen und kleine Kinder apathisch auf Decken liegen. So, wie sie seit Tagen und Wochen hier liegen. Mit einem Unterschied: Sie haben mit ihrem letzten Geld Zugtickets in den Westen gekauft. Dennoch dürfen sie nicht reisen. 


Eine Flüchtlingsfamilie wird vor dem Budapester Ostbahnhof von der Polizei kontrolliert. Foto: B. Odehnal

Am Montagvormittag hatte sich die ungarische Polizei ohne Vorankündigung zurückgezogen und die Züge freigegeben. Die Anordnung dazu muss von der Regierung gekommen sein. Tausende Flüchtlinge stürmten die Railjet-Züge, die über Wien nach München fahren. Bis zum Abend dieses Tages kamen rund 3600 Flüchtlinge in Wien an. In Budapest hofften weitere 1500 bis 2000 Menschen auf einen Zug am nächsten Tag. Sie hatten am Montag bis zu 12 Stunden in der Schlange vor dem Ticketschalter gestanden. Am nächsten Tag lagerten sie auf den Perrons, in den Vorhallen, überall im Bahnhof. 

Doch am Dienstag brachte nur mehr der Frühzug Flüchtlinge nach Wien. Gegen 9.30 Uhr stürmten Polizeieinheiten die Bahnhofshalle und trieben die Flüchtlinge wieder nach draussen. Deren Widerstand waren nur laute Pfiffe und Protestrufe. Niemand wehrte sich. Zwei Stunden später war der Bahnhof geräumt, in der Unterführung wurde ein Sperrgitter heruntergelassen. Damit dreht die ungarische Regierung einfach die Uhr um zwei Tage zurück. Die Lage vor dem Ostbahnhof (Budapest Keleti) ist nun genauso elend wie in den vergangenen Wochen vor Freigabe der Züge: Familien mit kleinen Kindern lagern auf dem nackten Beton, Frauen stillen ihre Babys auf den Abgängen zur Metro, Männer starren mit leeren Augen ins Nichts. Es stinkt nach Schweiss und Exkrementen. Die Sonne brennt herab und heizt den Steinboden auf. 

Flüchtlinge beschimpft 

Der Staat ist nur in Form der Polizei präsent, die rund um den Bahnhof einen Kordon aufgezogen hat und sporadisch Personenkontrollen durchführt. Zivile Helfer und kirchliche Organisationen verteilen Wasser und bieten medizinische Dienste an, aber sie sind viel zu wenige, um die Not zu lindern. Ungarn vor dem Bahnhof schimpfen auf die Flüchtlinge, weil sie so schmutzig seien. Ausländische Touristen wundern sich über den Zynismus der ungarischen Regierung, die Menschen hier im Zentrum der Hauptstadt verkommen lässt. 

In einigen Wochen will die Regierung das Gelände eines alten Flohmarkts zum Flüchtlingslager umgebaut haben. Allerdings gibt es auch dagegen schon massiven Protest. Die Neonazi-Gruppe «48 Burgkomitate» zog mit Fahnen auf das Gelände und erklärte es zum «nationalen Territorium», nur für Ungarn. Ungarische Medien fragen bereits, was mit den Flüchtlingen in den kommenden Tagen geschehen soll, denn der Wetterbericht sagt einen Temperatursturz und Regen voraus. 

Warum machte diese Regierung von Premier Viktor Orban einen Tag das Tor zum Westen auf und schloss es danach wieder? Weshalb verkaufte die ungarische Eisenbahn MAV Fahrkarten ins Ausland, die nun nicht benutzbar sind? In Ungarn gibt es darauf keine Antworten. Orban erklärte lediglich, er werde das Flüchtlingsthema am Donnerstag in Brüssel diskutierten. Sein Kanzleramtsminister Janos Lazar machte für die Misere die «linke und liberale» Politik der EU in den vergangenen zehn Jahren verantwortlich. 

In Wien warten die Flüchtlingshelfer inzwischen vergebens. Innert weniger Stunden hatten sie nach der Ankunft der ersten Flüchtlinge am Montagabend am Wiener Westbahnhof eine komplette Infrastruktur zum Empfang aufgebaut. Woran das Innenministerium und die Schweizer Firma ORS im berüchtigten Erstaufnahmestelle Traiskirchen monatelang gescheitert waren, das schafften einige Dutzend private Helfer im Handumdrehen: Flüchtlingen einen respektvollen Empfang, Schutz und Verpflegung zu bieten. Es war eine Sternstunde der Zivilgesellschaft. 


In der Passage beim Budapester Ostbahnhof. Foto: B. Odehnal

Da es für Ankommende in den letzten Zügen keine Anschlüsse nach Deutschland mehr gab, mussten etwa 1000 Menschen über Nacht bleiben, unter ihnen besonders viele Familien mit kleinen Kindern. Da gleichzeitig vor dem Bahnhof eine Grossdemonstration für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen stattfand, kamen Dutzende Teilnehmer zum Bahnhof, brachten Wasser, Lebensmittel, Decken und Babywindeln. Auch Übersetzer und Übersetzerinnen für Arabisch, Kurdisch und Farsi meldeten sich. Freiwillige lotsten die erschöpften Ankömmlinge durch den Bahnhof. 

Koordiniert wurde die Aktion von der umtriebigen grünen Stadtabgeordneten Birgit Hebein, die die ganze Nacht bis in den nächsten Tag hinein durcharbeitete. Unterstützt wurde sie von Caritas und evangelischer Diakonie sowie von den Österreichischen Bundesbahnen, die Büroräume und einen leeren Zug für die Übernachtung der Flüchtlinge öffnete. Läden im Bahnhof spendeten Getränke und Lebensmittel. Die Polizei blieb am Rande und griff nicht ein. Am Dienstag titelte das Wiener Boulevardblatt «Kronen Zeitung», die Flüchtlinge hätten den Westbahnhof «lahmgelegt». Aber das war eine Lüge. Am Montag hatten die Züge nach Salzburg und München Verspätung, am Dienstag fuhren sie wieder pünktlich ab. 

Aggression und Resignation 

Unnötig erschwert wurde die Arbeit der Helfer und Bähnler, weil sie keine Information aus Ungarn erhielten. Die ungarische Bahn MAV schickte Züge los, hielt andere zurück, schickte sie dann doch auf die Strecke. Die österreichische Bahn erfuhr erst davon, als die Züge in der Grenzstation Hegyeshalom standen. Deshalb warteten die Helfer in Wien am Dienstag auf einen weiteren Ansturm. Doch der blieb aus. Und vor dem Budapester Ostbahnhof schwankt die Stimmung zwischen Aggression und völliger Resignation. Je stärker die Sonne brennt, desto lauter werden die jungen Männer vor dem Bahnhofstor: «Germany, Germany!» Er wisse nicht, sagt einer, warum er hier festgehalten werde. Auch in Wien kann Helferin Hebein die Welt nicht mehr verstehen. Nur eines sei sicher: «Allerspätestens jetzt sollte allen klar sein, dass das Dublin-Abkommen gescheitert ist.»