Roma sehen von Schweizer Hilfsgeldern wenig

4. Juni 2012

Im Nordosten Ungarns sollen mit der Kohäsionsmilliarde Arbeitsplätze geschaffen und der Tourismus gefördert werden. Mit einem Teil des Geldes wird ein Schloss restauriert. Die Roma in den vielen Ghettos in der Region fühlen sich weiter an den Rand gedrängt.

 
Von Bernhard Odehnal, Sajokaza
 
«Das ist unser Schatz», sagt Katalin Petkovics zu Beginn ihrer Führung durch Schloss Radvanszky, «jetzt werden wir ihn endlich zum Glänzen bringen.» Dafür braucht es jedoch Geld. Sehr viel Geld: Das neoklassizistische Gebäude in der ostungarischen Gemeinde Sajokaza ist am Verfallen. Die meisten Räume sind leer, die Fenster undicht und die Mauern feucht. In einem Zimmer stehen noch Möbel aus jenen Jahren, als im Schloss die Grundschule war. In einem anderen erzählt eine kleine Ausstellung die Geschichte der Adelsfamilie Radvanszky, die mit Kohleminen reich wurde und vor den Kommunisten in die Schweiz floh. Die alte Bibliothek, einst die grösste private Büchersammlung Ungarns, ist teilweise noch erhalten. Jetzt soll Schloss Radvanszky generalsaniert und zum Veranstaltungszentrum ausgebaut werden. Die Mittel dafür kommen aus der Schweizer Kohäsionsmilliarde. Die für Kultur zuständige Abgeordnete Petkovics beschreibt das Projekt als «besonders wichtig für unsere Bürger». Die gesamte Region werde vom Tourismus profitieren.

 

Romabudget wurde gekürzt

«Das ist unser Schicksal», sagt Istvan Lazi zu Beginn seiner Führung durch die Barackensiedlung Solyom am östlichen Rand von Sajokaza: «Wir können nicht entkommen.» Rund 1000 Roma leben in den alten Bergarbeiterunterkünften. Arbeit hat niemand, Geld nur die Familie des Wucherers, dessen Haus an der frischen Farbe und dem gepflegten Vorgarten zu erkennen ist. Die anderen Männer graben in der nahen Schlackenhalde nach Alteisen, das sie an Schrotthändler verkaufen. Frauen sammeln Holz oder holen Wasser aus einem der drei Brunnen, die die gesamte Siedlung mit Trinkwasser versorgen. Der 25-jährige Lazi lebt in einem kleinen Zimmer gemeinsam mit Mutter und Bruder. Es gibt ein Sofa, zwei Matratzen, aber keinen Tisch. Ein anderer Bruder sitzt im Gefängnis, ebenso sein Schwager. Seinem kleinen Neffen droht der Abstieg in eine Sonderschule, weil ihn der Schulpsychologe aufgrund seines «Familienhintergrunds» als geistig zurückgeblieben einstuft.
 
Lazi ist Vorsitzender der Romaselbstverwaltung von Sajokaza. Das klingt nach Mitbestimmung für die Minderheit, die immerhin ein Drittel der 3500 Bewohner ausmacht. Tatsächlich darf er im Gemeinderat aber nur zuhören. Das Jahresbudget für die Selbstverwaltung wurde unlängst von umgerechnet 3200 auf 800 Franken gekürzt. Das reicht gerade für den jährlichen Marsch im Gedenken an die Opfer des Holocaust. Vom Geld aus der Schweizer Kohäsionsmilliarde für Sajokaza hört Lazi zum ersten Mal. Weder der Bürgermeister noch die Kulturbeauftragte Petkovics haben ihn informiert.
 

Schweizer Geld für Start-ups

Vor der Wende war hier das Zentrum der Schwerindustrie. Über Miskolc, der drittgrössten Stadt Ungarns, rauchten die Schlote der Stahlwerke, ein paar Kilometer weiter wurde in den 1950er-Jahren neben einem Chemiekombinat die Stadt Kazincbarcika aus dem Boden gestampft. Kleinere Gemeinden wie Sajokaza oder das benachbarte Rudabanya lebten vom Kohlebergbau. Heute sind die meisten Fabriken und Gruben stillgelegt. Arbeitsplätze gibt es noch im geschrumpften Chemiewerk, im riesigen Tesco-Supermarkt und bei den aufgeblähten Gemeindeverwaltungen. Die Arbeitslosigkeit in der Region liege bei 20 Prozent, sagt der Bürgermeister von Kazincbarcika, Peter Szitka. In manchen Gemeinden ist sie fast doppelt so hoch, unter den Roma beträgt sie bis zu 100 Prozent. Die Arbeitslosen müssen Trottoirs kehren, am Strassenrand Unkraut rupfen oder im Wald Fallholz sammeln. Wer diese gemeinnützige Arbeit verweigert, nicht pünktlich erscheint, zu lange Mittagspause macht, verliert die Sozialhilfe. Wer kann, arbeitet deshalb lieber schwarz in Budapest oder im Ausland. Viele Prostituierte in Zürich kommen aus den Dörfern rund um Kazincbarcika.
 
Mit Schweizer Hilfe sollen nun Arbeitsplätze geschaffen und Touristen angelockt werden. Rund 130 Millionen Franken gehen aus der Kohäsionsmilliarde nach Ungarn, davon fünf Millionen in die Mikroregion Kazincbarcika. Die Projekte wurden im März beschlossen. Schwerpunkt ist ein «Inkubator-Haus» in Kazincbarcika, in dem sich Start-up-Unternehmen günstig einmieten können und von Mentoren betreut werden. «Die Unternehmer bringen neue Ideen», erklärt Bürgermeister Szitka, «bei uns bekommen sie billige Arbeitskräfte und Büroräume zu Mieten unter dem Marktpreis.»
 
In anderen Gemeinden wird der Tourismus gefördert: In Sajokaza mit der Renovierung von Schloss Radvanszky, in Rudabanya mit einem neuen Themenpark über den Rudapithecus, ein zehn Millionen Jahre altes menschenähnliches Wesen, dessen Knochen in den 1960er-Jahren in einer Erzmine gefunden wurden. Mit diesen Projekten könnten die Natur- und Kulturschätze der Region in den Vordergrund gerückt und gleichzeitig die Arbeitslosigkeit bekämpft werden, sagt Liliana de Sá Kirchknopf, Leiterin des Büros für die Umsetzung des Erweiterungsbeitrags in Budapest. Ausserdem soll ein Rebranding die Stadt vom Ruf des Industriefriedhofs befreien und ihr ein modernes Image geben. Kazincbarcika werde dabei von Erfahrungen der Schweizer Gemeinden Sierre, Vevey und Monthey lernen.
 

Unter scharfer Beobachtung

Die Umsetzungsphase beginnt gerade, Details müssen verhandelt werden. Danach will die Schweizer Seite in einem Projektausschussgremium durch Zwischenberichte und Monitoring den Fortschritt der Arbeiten überprüfen. Das Schweizer Programm habe keinen spezifischen Romafokus, «da es auf dem Prinzip der Inklusivität gründet» sagt de Sá Kirchknopf, «aber natürlich erhoffe ich mir, dass bei der Renovierung des Schlosses Roma beschäftigt werden.» In den Gesprächen vor Ort sei die Koordination mit den nationalen Romaprogrammen vereinbart worden.
 
«Bis jetzt hat man uns nicht einmal ins Kulturhaus gelassen», beschreibt hingegen Istvan Lazi das Verhältnis der Gemeindeverwaltung von Sajokaza zu den Roma, «ich kann mir nicht vorstellen, dass wir jetzt Arbeit bekommen.» Auch Peter Juhasz, Leiter des Romaprogramms in der Bürgerrechtsorganisation Tasz, glaubt nicht, dass die Minderheit von der Schweizer Hilfe profitieren kann: «Die Roma sind hier so verhasst, dass die Gemeinde lieber Arbeiter von auswärts holen wird.» Abgeordnete Petkovics entkräftigt diesen Verdacht nicht gerade, wenn sie über Geschichte und Bewohner von Sajokaza und ihre Hoffnung auf neue Arbeitsplätze spricht. Die Roma erwähnt sie kein einziges Mal.
 
Über dem Hauptplatz von Sajokaza wehen die Fahnen Ungarns und der EU. Unter dem Fahnenmast plätschert ein neuer Springbrunnen. Schmucke Parkbänke laden zum Verweilen ein. Die umgerechnet 200 000 Franken für das Ensemble kamen aus einem Brüsseler Strukturfonds. Für eine Wasserleitung in die Romasiedlung Solyom reichte das Geld nicht. Keine 500 Meter trennen den Springbrunnen von der Romasiedlung. Und doch ist es ein Weg von der ersten in die Dritte Welt. Die Grenze ist unsichtbar, aber jeder im Dorf weiss, wie weit er gehen darf. Die «Zigeuner» (wie sie sich selbst nennen) meiden den Hauptplatz, die «Weissen» machen einen weiten Bogen um Solyom. Die einen klagen über Rassismus und Ausgrenzung, die anderen über gestohlenes Gemüse und aggressive Jugendliche. Miteinander geredet wird nicht.
Das Romaghetto Solyom ​in Sajokaza
Das Romaghetto Solyom ​in Sajokaza
 
Der neue Hauptplatz, das Kulturhaus, das Schloss: Für Tibor Derdak bilden die drei Häuser «das Dreieck der Macht in Sajokaza». Und er bedauert, dass «die Machtstrukturen mit Schweizer Franken gestärkt werden». Derdak ist Direktor des Dr.-Ambekar-Gymnasiums, das von einer buddhistischen Stiftung gegründet wurde und Kinder aus der Romasiedlung bis zur Matura führt. Eigentlich wollte die Stiftung ihre Schule im leeren Schloss einrichten. Die Gemeindeverwaltung lehnte ab. Daraufhin baute Derdak ein neues Haus am Rand von Solyom. Das Gymnasium machte Sajokaza weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Nur die lokalen Politiker haben wenig Freude daran. Und Derdak bekommt immer mehr Probleme.Sajokaza ist sehr sicher. 24 Polizisten sorgen für Ruhe und Ordnung, mehr als in so mancher Kreisstadt. Besonders die Ordnung rund um das Schulgebäude ist der Exekutive ein Anliegen. Sie kontrolliert die Autos der Lehrer und Velos der Schüler. Für jedes kaputte Rücklicht, jeden abgefahrenen Reifen setzt es Strafen, die höher als die monatliche Sozialhilfe sind. Die Roma müssen Kredite aufnehmen, geraten in die Schuldenfalle und die Fänge des lokalen Wucherers. Vor einigen Wochen drangen Polizisten in die Schule ein und nahmen zwei Mädchen mit, weil sie miteinander gestritten hatten.Derdak wollte neben der Schule ein Tagesheim errichten, damit die vielen minderjährigen Mütter aus Solyom ihre Kinder während der Schulzeit abgeben können. Stattdessen muss er jetzt Lehrer entlassen. Das neue ungarische Religionsgesetz hat der Stiftung den Status als Kirche entzogen und ihrer Schule damit das Recht auf Steuerbefreiung. Auch das Arbeitsinspektorat ist sehr aufmerksam: Weil Unterlagen fehlten, muss die Schule 13 000 Franken Busse zahlen. Das sei unangemessen hoch, sagt Stiftungsvorsitzender Janos Orsos, «keine Baustelle wurde je so streng kontrolliert».
Kulturbeauftragte Katalin Petkovics vor dem Schloss Radvanszky
Kulturbeauftragte Katalin Petkovics vor dem Schloss Radvanszky
 
In der Schule glaubt man, dass hinter der Kontrolle ein rechtsextremer Politiker aus der Region steckt. In Nordostungarn ist die neofaschistische Partei Jobbik besonders stark, bei den Wahlen erreichte sie 23 Prozent (im gesamten Land kam sie auf 17 Prozent). Nach einem von einem Roma begangenen Mord marschierte Anfang Mai die Ungarische Garde in einem Dorf bei Miskolc auf. In Kazincbarcika rekrutiert die paramilitärische Ungarische Nationale Front neue Mitglieder. Romabeauftragter Peter Juhasz erwartet, dass die Spannungen in den kommenden Monaten zunehmen werden, ebenso die negativen Berichte über die Region. Tourismusprojekten gibt er unter diesen Voraussetzungen keine Chance: «Sinnvoll ist nur, was langfristig Bildung und Arbeitsplätze schafft.» Solange aber Vertreter der Mehrheit und der Minderheit nicht einmal miteinander reden, sind auch solche Projekte zum Scheitern verurteilt.
 

Seltsame Kanalisationspläne

Wäre da nicht das Romagymnasium eine unterstützenswerte Einrichtung? Kulturbeauftragte Petkovics legt die Stirn in Falten und seufzt. Über diese Schule will sie «lieber gar nichts sagen». Oder nur so viel: «Das ist kein richtiges Gymnasium. Da wird nicht ordentlich unterrichtet.» Viel lieber erzählt sie über ihre Pläne für das mit Schweizer Geld renovierte Schloss. Ein sommerliches Kunstlager will sie einrichten, Kurse in Töpfern, Flechten und anderen alten Handwerkskünsten, Literaturklassen für begabte Kinder anbieten. Die Säle sollen für Hochzeitsfeiern vermietet werden. Die Stimmung sei nicht besonders gut in Sajokaza, sagt Katalin Petkovics, aber es gehe wieder bergauf. Im nächsten Jahr steht neben der Schlossrenovierung endlich der Bau der Kanalisation auf dem Programm. «Wir brauchen einen Perspektivenwechsel», sagt Petkovics, «dann können wir viel erreichen.»
 
Tibor Derdak sah bei einer Sitzung des Gemeinderats die Pläne für das Kanalnetz: Die Rohre enden dort, wo die Romasiedlung Solyom beginnt.