Stadler Rail droht Millionenklage in Deutschland

21. Februar 2013

Die verspätete Auslieferung von Zügen des Typs Kiss bringt den Thurgauer Bahnhersteller und seine Kunden in Schwierigkeiten.

Ein Grossauftrag der russischen Staatsbahnen über 360 Millionen Franken, neue Aufträge in Deutschland und gute Chancen auf eine umfangreiche Bestellung in Ungarn: Das Jahr begann gut für den Ostschweizer Bahnbauer Stadler Rail. Vor allem die Doppelstockzüge des Typs Kiss («komfortable, innovative, spurstarke S-Bahn-Züge») sind sehr gefragt. Die Kiss-Züge werden unter anderem bereits von den SBB als Zürcher S-Bahnen und – als Fernverkehrsvariante – von der privaten Westbahn in Österreich eingesetzt. Bald sollen sie auch auf der Moskauer Flughafenbahn, im Grossraum Berlin, rund um Hannover und in Luxemburg fahren.

Jetzt aber bringt der Kiss für Stadler Probleme und vielleicht sogar einen Rechtsstreit über einen zweistelligen Millionenbetrag. Die Ostdeutsche Eisenbahngesellschaft (Odeg) muss seit Dezember 2012 Ersatzzüge und Personal mieten, weil Stadler Pankow, eine deutsche Tochterfirma der Stadler Rail Group, die bestellten Kiss-Garnituren verspätet ausliefert. Der finanzielle Schaden sei für sein Unternehmen «substanziell», sagt Odeg-Chef Arnulf Schuchmann. Er will, dass Stadler für den Schaden von 10 bis 12 Millionen Euro haftet.

Der Geschäftsführer von Stadler Pankow, Michael Daum, schliesst einen Rechtsstreit nicht aus. Stadler werde sich vertragskonform verhalten, sagt Daum dem TA, «aber wenn die Behörde Normen verändert, können nicht wir dafür verantwortlich gemacht werden». Durch diese Änderungen sei auch Stadler Pankow erheblicher Schaden entstanden.

DB verklagt Bombardier

Die vor zehn Jahren gegründete Odeg bekam 2009 vom Berliner Verkehrsverbund den Zuschlag für einen Teil der Regionallinien rund um die deutsche Hauptstadt. Um den Verkehr zu bewältigen, bestellte man bei Stadler Pankow 16 Kiss-Züge. Sie sollten im Dezember 2012 in Betrieb gehen. Zu diesem Zeitpunkt konnte Stadler allerdings erst fünf Züge liefern, und die Odeg musste rasch einen Ersatzbetrieb organisieren.

Lieferschwierigkeiten und Mängel treffen nicht nur kleinere Unternehmen. Die Deutsche Bahn wartet seit einem Jahr auf 16 neue ICE von Siemens. Der Konzern hat als Schadenersatz einen 17. Zug gratis angeboten. Auch die Firma Bombardier kann ihre Nahverkehrszüge «Talent 2» nicht rechtzeitig liefern, weil ihnen zum Teil die Zulassung fehlt. Bei Garnituren eines anderen Typs kommt es immer wieder zu technischen Gebrechen. Die DB habe deshalb Klagen gegen Bombardier über 160 Millionen Euro eingebracht, berichtet die «Berliner Zeitung»: Das deutsche Eisenbahn-Bundesamt EBA werfe den Herstellern vor, Züge zu schnell in Serienfertigung zu bringen.

Die Industrie hingegen macht das Eisenbahn-Bundesamt für die Lieferschwierigkeiten verantwortlich. So auch der Geschäftsführer von Stadler Pankow. Mitten im Produktionsprozess habe das EBA überraschend neue Vorschriften für Bremsen und Achsen eingeführt, sagt Michael Daum: «Wir mussten alles neu dimensionieren. Dadurch geriet unsere Produktion ins Stocken. Weil wir dann Unterlagen erst spät einreichen konnten, bekamen wir die Zulassung nicht rechtzeitig.» Um die Folgen der Verzögerung zu mindern, habe Stadler Pankow sogar den unwirtschaftlichen Dreischichtbetrieb eingeführt und zusätzlich Personal eingestellt, sagt Daum. Dadurch sei es «zu dem einen oder anderen Qualitätsproblem gekommen».

«Schweizer Qualität verärgert»

In Berlin wird die Kritik an den umständlichen Behördenverfahren immer lauter. Vom «Eisenbahn-Bummelamt» schreibt die «Frankfurter Allgemeine Zeitung»: Zulassungen für einen Zug in Deutschland würden zehnmal so lang dauern wie im Rest Europas. Michael Daum warnt, dass die Eisenbahnindustrie in Deutschland nicht mehr verlässlich planen könne: «Die wirtschaftlichen Schäden sind kein Spass mehr.»

Auf Stadler Pankow kommt ein weiteres Problem zu. Die Luxemburgische Eisenbahn CFL hat acht dreiteilige KissGarnituren gekauft und erwartet die Auslieferung ab Mai. Da die Züge auch über die Grenze nach Deutschland fahren sollen, werden die Normänderungen des EBA Auswirkungen auf diesen Liefertermin haben, sagt Daum: «Wir sind aber der Überzeugung, dass wir noch 2013 liefern können.»

Auch in Tschechien verlief der erste Einsatz von Stadler-Zügen nicht reibungslos. «Schweizer Qualität verärgert», titelte Ende vergangenen Jahres die Prager Tageszeitung «Mlada Fronta Dnes»: «Nur die Hälfte der Züge kann fahren.» Auf der Strecke Prag–Olomouc–Ostrava betreibt der Jungunternehmer Leoš Novotný seinen «Leo-Express» mit fünf brandneuen, im thurgauischen Bussnang hergestellten Stadler-Zügen des Typs Flirt. Die eleganten, schwarz-gold lackierten Fahrzeuge wurden bei ihrer Präsentation von der Presse sehr gelobt, bald danach aber heftig kritisiert.


Weniger Werbung mit «Schweizer Qualität»: Der Leo-Express in Olomouc. Foto: B. Odehnal

«Dnes» berichtete von Schwierigkeiten mit den Türen, mit der Heizung und dem Getriebe der Züge. Leo-Express musste im Dezember mehrere Züge aus dem Fahrplan nehmen. Der Sprecher von Stadler Bussnang, Tim Büchele, bestätigt dem TA, dass es bei drei Zügen Probleme mit den Getrieben gegeben habe. Die deutsche Herstellerfirma habe die Teile in Sonderschichten während der Weihnachtsfeiertage ausgetauscht. Seit Anfang Januar seien die Flirt planmässig im Einsatz.

Der Verweis auf Schweizer Wertarbeit wird von Leo Express seither jedoch seltener eingesetzt. Seit Anfang Februar verzichtet das Unternehmen auf die Bezeichnung «Švýcarské kvality» (Schweizer Qualität) auf Bahnhofsanzeigen und in Bahnhofsansagen der Leo-Züge. Man vertraue stattdessen auf die Kraft der eigenen Marke, erklärte ein Unternehmenssprecher.