Sturm auf die Züge in den Westen

1. September 2015

Nach dem Fund von 71 Toten in einem LKW verschärft Österreich die Strassenkontrollen nahe der ungarischen Grenze. Ungarn lässt dafür die Migranten zu Tausenden ausreisen. 

Und plötzlich sind die Grenzen für Flüchtlinge offen. Obwohl das natürlich niemand so sagt. Die Regierungen Ungarns und Österreichs betonen, wie scharf sie über die Asylbewerber wachen. Doch am Montagvormittag gibt die ungarische Polizei plötzlich den Budapester Ostbahnhof frei, die Flüchtlinge dürfen in den Railjet-Zügen Richtung Westen fahren. Die Nachricht verbreitete sich im «Transit Zone» genannten Lagerplatz vor dem Ostbahnhof in Windeseile. Die Züge wurden gestürmt. Etwa 400 Flüchtlinge blockierten Gänge und Einstiegstüren, weswegen die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) an der Grenze die Übernahme zurückwiesen. Doch die Flüchtlinge weigerten sich, den Zug zu verlassen, da sie fürchteten, registriert und zurück nach Ungarn geschickt zu werden. Auch einen angebotenen Ersatzzug nach Wien wollten sie nicht besteigen, weil sie einen Trick vermuteten. 


Ein aus Ägypten stammender Mitarbeiter der ÖBB zeigt Flüchtlingen den Weg zum nächsten Zug. Foto: B. Odehnal

In Wien erzählte zur selben Zeit ein Polizeisprecher den am Bahnhof auf die Flüchtlingswelle aus Ungarn wartenden Journalisten detailliert, wie die Ankommenden kontrolliert und entweder in ein österreichisches Aufnahmezentrum oder zurück nach Ungarn geschickt würden. Nichts davon entsprach der Realität. Österreich drückte beide Augen zu und liess die Flüchtlinge ungehindert weiter Richtung Deutschland reisen. Sie hatten ja alle gültige Fahrkarten, gekauft von ihrem letzten Geld in Budapest. 

Überfordert waren vor allem die ÖBB. Die Ungarn hatten sie über die Freigabe der Züge nicht informiert und auf dem Wiener Westbahnhof kam es am Abend zu tumultartigen Szenen, als über 500 Flüchtlinge aus Budapest den Zug nach München stürmten. Erst als die Ersten im Gedränge im Zug zu kollabieren drohten, schritten Polizei und ­Sicherheitsdienst der Bahn ein und ­holten einige Flüchtlinge wieder aus dem Zug. An diesem Tag machten sich Tausende auf den Weg von Budapest nach Deutschland. 

Warum die ungarische Regierung die Flüchtlinge ziehen liess, ist nicht klar. Der ungarische Regierungssprecher ­Zoltán Kovács gab Deutschland die Schuld für die Flüchtlingswelle Richtung Westen, weil es in den letzten Tagen «Flüchtlingen gegenüber eine nachgiebigere Haltung gezeigt hat». Ungarn müsse die EU-Aussengrenze schützen, es sei nicht wahr, «dass Personen, die Ungarn bereits betreten haben, frei weiterrei- sen dürfen». Vermutlich wollte Ungarn aber auch eine Antwort auf die verschärften Kontrollen durch die öster­reichische Polizei geben, die ein ­Verkehrschaos auf der ungarischen ­Autobahn auslöste. 

50 Kilometer langer Stau 

Nachdem am vergangenen Mittwoch auf der österreichischen Seite der Grenze die Polizei einen abgestellten LKW mit 71 toten Flüchtlingen entdeckt hatte, kündigte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner verschärfte Kontrollen an der ­Autobahn von Budapest nach Wien an. Direkte Grenzkontrollen sind den Österreichern durch das Schengen-Abkommen verboten, allerdings kann die Polizei Verkehrskontrollen kurz nach der Grenze durchführen. Da sie dies gestern besonders rigoros tat, bildete sich auf ungarischer Seite schnell ein 50 Kilometer langer Stau. Täglich passieren etwa 3000 Lastwagen die Grenze, eine lückenlose Kontrolle sei praktisch unmöglich, gibt die burgenländische Polizei zu bedenken. Bei den Stichprobenkontrollen wurde gestern ein Kleinbus mit versteckten Flüchtlingen gefunden, mehrere mutmassliche Schlepper wurden verhaftet. Am Samstagabend hatte die Polizei einen Kleinlastwagen mit Flüchtlingen auf der Ladefläche entdeckt. Zwei Kinder sollen knapp vor dem Verdursten gewesen sein. 

Ungarn verkündete gestern die Fertigstellung der provisorischen Grenzsperre zu Serbien mit Stacheldrahtbarrieren. Zusätzlich wurden Polizeieinheiten als «Feldgendarmerie» an die Grenze verlegt. Den Flüchtlingsstrom kann das bis jetzt nicht stoppen. Allerdings zeigen Flüchtlinge, die es durch Ungarn bis Wien schaffen, nun tiefe Wunden an ­Armen und Beinen, verursacht von den messerscharfen Spitzen des Natodrahts. 

Unter denjenigen, die es gestern mit dem ersten Zug doch noch von Budapest über Wien hinaus nach Deutschland schafften, war auch Mohammed, ein ­Ingenieur aus Aleppo mit seiner Frau und drei kleinen Kindern. Mehrere Wochen brauchte er aus seiner Heimatstadt bis nach Österreich, durch die Türkei, Mazedonien, Serbien, Ungarn. «Hungary big problems!», sagt er immer wieder. Vier Tage lang hatte die Familie in Budapest vor dem Ostbahnhof lagern müssen. Obwohl sie gültige Bahnbilletts hatte, wies sie die Polizei immer wieder ab: «No train for refugees.» Am Montag wurden sie durchgelassen, auch an der Grenze mussten sie nur kurz aus dem Zug, durften dann aber weiterfahren. Ob er es bis Hamburg schaffen wird? Vielleicht mit viel Glück. «Aber das Glück», zweifelt Mohammed, «hat uns Syrer schon lange verlassen.»