Tausend Jahre Einsamkeit

4. September 2013

Die Ungarn besiedelten die Donau-Tiefebene um das Jahr 900. Doch bis heute fühlen sie sich fremd und missverstanden in Europa. Sind sie wirklich anders? Ein Crashkurs in ungarischer Geschichte.

Székesfehérvár hat sich herausgeputzt. Die Strassen sind gewischt, die Häuser der ungarischen Kleinstadt mit Fahnen geschmückt. Der Premier kommt mit seiner gesamten Regierung, um der Heiligsprechung eines politischen Vorfahren im Jahr 1083 zu gedenken. Der heilige König Stephan (Szent István) habe die Nation vor dem Zerfall bewahrt, sagt Viktor Orbán: «Ohne ihn würden wir heute nicht hier stehen.»


Die Stephanskrone steht immer im Mittelpunkt: Die Edelausgabe der neuen ungarischen Verfassung, ausgestellt in der Nationalgallerie Budapest. Foto: B. Odehnal

Ungarns «Helden, Könige, Heilige», so der Titel einer Ausstellung, feiern Auferstehung. In der neuen Verfassung, in den Konjunkturprogrammen und in den Brandreden gegen Brüssel: Immer müssen die grossen Männer der Vergangenheit dazu dienen, die Politiker der Gegenwart zu rechtfertigen (Frauen kommen da nicht vor). Die Ungarn würden in ihre Sprache und Geschichte hineingeboren, so Orbán: «Von dem Augenblick an, da wir als Ungarn auf die Welt kommen, schliessen unsere sieben Stämme den Blutbund, gründet unser heiliger Stephan den Staat, unterliegen unsere Truppen in der Schlacht bei Mohács ...»Würde ein anderer EU-Regierungschef von Blutsbanden reden? Sind die Ungarn wirklich anders? Der Publizist Paul Lendvai nennt seine Landsleute wegen ihrer einzigartigen Sprache das «einsamste Volk in Europa». Er zitiert im Buch «DieUngarn - Eine tausendjährige Geschichte» den Autor Arthur Koestler, der die «seltsame Intensität der ungarischen Existenz» zur kollektiven Neurose erklärt.

Umstrittener Ursprung

Woher kommen die Ungarn? Wie konnten sie zwischen Persern und Byzantinern, Slawen und Germanen überleben? War es göttlicher Wille, die Genialität der Stammesführer oder historische Notwendigkeit? «Die Antwort auf diese Fragen macht einen noch heute - wie Kleider die Leute - zum Christen, Nationalisten oder (horribile dictu!) zum Marxisten», schreibt György Dalos im launigen Buch «Ungarn in der Nussschale». Er bezeichnet das unaufhörliche Ringen der Ungarn um Selbstbehauptung zwischen Ost und West, Verzweiflung und Hoffnung, Provinzialität und Weltoffenheit, Tradition und Moderne als «eine der spannendsten Episoden der europäischen Sage».

Nichts in der ungarischen Geschichte ist unumstritten. Nicht einmal die Herkunft der Magyaren. Für die Wissenschaft steht fest, dass sie mit Finnen, Esten und kleinen sibirischen Völkern wie Mansen oder Chanten verwandt sind. Die Urheimat dieser finnougrischen Völker wird im Ural vermutet, von wo die Finnen nach Norden und die Ungarn nach Westen zogen. Nationalistische Historiker in Ungarnhalten dies jedoch für eine Verschwörungstheorie, um die wahre Herkunft der Magyaren zu verschleiern. Für sie führt der Stammbaum der Ungarn über die iranischen Skythen und Parther direkt zu Jesus Christus (der angeblich auch Skythe und keineswegs Jude war). Unter den Anhängern der rechtsextremen Partei Jobbik ist diese Theorie besonders populär.

Einer Sage nach wurden die sieben ungarischen Stämme vom Vogel Turul in die Donau-Tiefebene westlich des Karpatenbogens geführt. Hier, in «Pannonien», gründete Stammvater Árpád um das Jahr 900 das erste Reich. Im Budapester Parlament zeigt ein riesiges Ölgemälde Árpáds Landnahme. Doch nicht dem Grossfürsten (dessen Existenz erwiesen ist), sondern dem Sagenvogel werden neue Denkmäler errichtet. Für Premierminister Orbán gehört der Turul «zum Blut und zum Heimatboden».Im 10. Jahrhundert waren die Raubzüge der Magyaren in ganz Europa gefürchtet. Die Brandschatzung des Klosters Sankt Gallen 926 war ein Schock. 50 Jahre danach liessen sich die Nachfahren Árpáds aber in demselben Kloster taufen. Sie waren in der Schlacht auf dem Lechfeld vom deutschen Kaiser Otto besiegt worden und suchten nun den Respekt des Westens auf friedlichem Weg.


Ein neues Turul-Denkmal in Budapest. Foto: B. Odehnal

Anerkennung bekamen sie - Hilfe in der Not nicht. Als die Mongolen 1241 das Land verwüsteten, sahen der römische Papst und der deutsche Kaiser tatenlos zu. Als 300 Jahre später der siebenbürgische Heerführer János Hunyadi den Vormarsch der Türken stoppte, beschränkte sich der Dank auf das Läuten der Kirchenglocken. Hunyadis Sohn Mátyás führte als Matthias Corvinus Ungarn zu neuer Grösse. Aus seiner Zeit stammt auch eine Erfindung, die weltweit mehr Verbreitung als später Rubiks Zauberwürfel fand. In einer westungarischen Kleinstadt wurden erstmals Pferdewagen mit Federung hergestellt. Die Bezeichnung «kocsi» (aus «kocs») wurde im Englischen zu «coach» und im Deutschen zu «Kutsche». Im Forschen und Erfinden sind die Ungarn unschlagbar: Kein anderes Land hat so viele Nobelpreisträger hervorgebracht. Die meisten von ihnen machten ihre Karriere allerdings im Ausland.

Nach Matthias kam der Niedergang. In der Schlacht bei Mohács 1526 wurde das ungarische Heer von den Osmanen vernichtend geschlagen. 15 000 Soldaten und der König starben. Schuld an der Niederlage war neben der fehlenden Unterstützung des Westens die Zerstrittenheit des Adels, der in verschiedene Fraktionen zerfiel. Die Osmanen blieben 150 Jahre. Anders als auf dem Balkan vermochten sie ihre Sprache, Religion und Kultur in Ungarn aber kaum zu verankern: Nur wenige osmanische Baudenkmäler sind erhalten geblieben. An der Vertreibung der Türken aus Mitteleuropa hatten die Ungarn militärischen Anteil. Zum Dank bekamen sie nicht Freiheit, sondern 250 Jahre lang die Habsburger. Die «Kuruzen» unter Ferenc Rákóczi leisteten erbitterten Widerstand gegen die Kolonialmacht. Sie standen aber allein gegen die österreichische Armee und die «Labanzen»: den Habsburg-treuen Teil des ungarischen Adels. Die «Einheit der Nation», wie sie Orbán beschwört, war immer nur ein Mythos. Ob Adel gegen Volk, Kuruzen gegen Labanzen, Rote gegen Weisse, Nationale gegen Liberale: Stets war die Nation in zwei unversöhnliche Lager geteilt. So gross konnte die Gefahr von aussen niemals sein, dass die Ungarn ihren Zwist vergassen.Nach Rákóczi sind heute Strassen, Brücken, ein Marsch und eine Quarkschnitte benannt. Er starb im türkischen Exil. In seiner Heimat hatten sich Adel und Kirche mit den Habsburgern arrangiert. Im Gegenzug wurden sie von Steuerzahlungen befreit und durften Ländereien und Leibeigene behalten.

Der wichtigste Modernisierungsschub kam mit dem in Wien geborenen Grafen István Széchenyi, der Anfang des 19. Jahrhunderts aus Ungarn ein zweites England machen wollte - mit freiem Handel und starker Industrie. Széchenyi gilt bis heute als «grösster Ungar», er fasste aber auch das Lebensgefühl der Ungarn in den berühmten Satz: «Wir sind alleine.» Wie recht er damit hatte, erfuhren dieUngarn 1848, als der Bürgerliche Lajos Kossuth sie in einen Aufstand gegen die Habsburger führte. Der junge Kaiser Franz-Joseph schlug die Revolution mithilfe des russischen Zaren und einer kroatischen Armee nieder. Zehntausende flüchteten. Die Habsburger liessen 13 revolutionäre Generäle hinrichten. Das Gedenken an die Opfer war tabu. Dafür boten die Habsburger den Ungarn einen Pakt an: Ihr vergesst den Aufstand - wir geben euch ein kleines Stück Freiheit.

Über 100 Jahre später funktionierte das erneut. Über die blutige Niederschlagung des Aufstands durch die Sowjets 1956, die Ermordung der politischen Elite und die Flucht Hunderttausender durfte bis zur Wende 1989 nicht gesprochen werden. Im Gegenzug bekamen die Ungarn von Janos Kadar den Gulaschkommunismus. Nur: Die Erinnerung an die Niederlage wurde damit nicht ausgelöscht - unter der Oberfläche gärte der Wunsch nach Vergeltung.

Die erste U-Bahn Europas

Zurück ins 19. Jahrhundert: Der verlorene Krieg gegen Preussen 1866 schwächte das Habsburgerreich. Ungarn nutzte die Gunst der Stunde und stieg zum Partner in der k. u. k. Monarchie auf. Das vorwiegend jüdische Bürgertum investierte in Eisenbahnen und Fabriken, Budapest erhielt die erste U-Bahn auf dem Kontinent. Die Monarchie tanzte Csardas, feierte Mulatschaks und liess die stolzen Husaren paradieren. Dass die eben erst der Unterdrückung entkommenen Ungarn nun mit ihrer «Magyarisierungspolitik» die nationalen Minderheiten unterdrückten, rächte sich nach dem Ersten Weltkrieg.

Bis 1918 hatte Ungarn 21 Millionen Einwohner - etwa ein Drittel waren Slowaken, Rumänen, Serben, Kroaten, Deutsche. Der Übergang zur Republik brachte dem Land erst einmal bürgerkriegsähnliche Zustände. Nach dem Intermezzo einer bürgerlichen Regierung unter Graf Mihály Karolyi kam mit der Räterepublik unter Béla Kun der «rote Terror» und drei Monate danach unter «Reichsverweser» Miklos Horthy der «weisse Terror». Der Ex-Admiral ritt auf einem Schimmel in die eroberten Städte ein, so wie der Legende nach Grossfürst Árpád.Der blutige Streit zwischen Linken und Rechten verhinderte den Schulterschluss zur Abwehr einer Katastrophe. Im Juni 1920 beschlossen die Siegermächte des Weltkriegs in Versailles die radikale Verkleinerung Ungarns. Über die Hälfte des Territoriums ging an die Nachbarstaaten Rumänien, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Österreich. Darunter waren auch historische ungarische Städte wie Pozsony (heute Bratislava) und Kolozsvár (heute Cluj in Rumänien).

Das Trauma wirkt bis heute nach. Die Regierung Orbán lehnt Grenzverschiebungen ab, bekräftigt in Reden aber den Machtanspruch im ganzen Karpatenbecken. Die rechtsradikale Jobbik fordert offen die Wiederherstellung des alten Reichs. Die Umrisse Grossungarns sind heute überall im Land zu sehen: auf Autostickern, Plakaten und T-Shirts.Wie dem Turul werden auch Horthy, der in der Zwischenkriegszeit autoritär regierte, neue Denkmäler errichtet. Für die Nationalisten war er nicht Wegbereiter des Faschismus, sondern Verteidiger Ungarns in schweren Zeiten. Ausgeblendet wird sein Pakt mit den Nazis und die ungarische Hilfe bei der Deportation einer halben Million Juden. Nach der Befreiung Budapests durch die Rote Armee hofften die Ungarn noch einmal auf die Hilfe der westlichen Alliierten. Die aber hatten das Land im Osten Europas längst Stalin überlassen.

Die Diktatur des Proletariats brachte neuen Terror. Auch beim Aufstand 1956 blieben die Ungarn alleine. Wegen eines kleinen Volks im Osten Europas wollten die USA keinen neuen Weltkrieg riskieren.Als 1989 die Verbrechen des Kommunismus erstmals thematisiert wurden und die Opfer von 1956 ein Staatsbegräbnis erhielten, trat ein unrasierter junger Mann ans Rednerpult und forderte den Abzug der Roten Armee und freie Wahlen. Viktor Orbán war damals ein Liberaler und Atheist. Zum konservativen Christen und Nationalisten begann er sich nach der ersten Wahlniederlage zu wandeln. Die alten Könige und Heiligen werden ihm immer wichtiger. Zum Auftakt seiner Regierungszeit liess er die Krone des Heiligen Stephan aus dem Museum ins Parlament bringen. Heute ist sie im Zentrum der ungarischen Politik.

Doch noch immer stehen sich nationales und liberales Lager gegenüber. Das Begleichen alter Rechnungen scheint wichtiger als die Zukunft des Landes. Der Wahlsieg mit Zweidrittelmehrheit 2010 gab Orbán die historische Chance, den Gegnern die Hand zu reichen und die Spaltung zu überwinden. Er hatte andere Pläne. Die Kluft hat sich vertieft. Ungarn bleibt eine Geisel seiner Geschichte.