Unfall oder antisemitischer Anschlag?

29. November 2013

Bei Győr in Ungarn ist die Statue des jüdischen Dichters Miklós Radnóti zerstört worden. Ungarns Behörden schweigen über die Hintergründe.

Ein Streifen braune Erde, eine weisse Tafel mit einer kaum noch lesbaren Inschrift. Mehr ist nicht mehr zu sehen in der flachen, kahlen Landschaft westlich der ungarischen Stadt Győr. Bis vor einigen Tagen stand hier noch eine lebensgrosse graue Granitstatue: ein trauriger Mann in einem weiten Mantel vor einer immergrünen Zypressenhecke. Jetzt ist die Statue verschwunden.


An dieser Strasse bei Győr stand das Radnóti-Denkmal. Mittlerweile wurden alle Spuren verwischt. Foto: B. Odehnal

Das Denkmal wurde 1980 errichtet, in Erinnerung an den Dichter Miklós Radnóti, der im Alter von 35 Jahren 1944 von den ungarischen Faschisten erst zur Zwangsarbeit im heutigen Serbien gezwungen und dann auf einen Fussmarsch quer durch Ungarn Richtung Westen geschickt wurde. Als Radnóti auf der Wiener Strasse zwischen Győr und dem Dorf Abda erschöpft zusammenbrach, wurde er gemeinsam mit anderen Gefangenen erschossen und in einem Massengrab verscharrt. 1946 wurde das Grab geöffnet. In der Jacke der Leiche fand man Radnótis letzte Gedichte. Er gilt bis heute als einer der wichtigsten ungarischen Dichter, ihm sind mehrere Denkmäler in Ungarn gewidmet.

Denkmal von einem Auto gerammt

Die Granitstatue am Ort seiner Ermordung wurde jedoch vor einigen Tagen zerstört, und die Reste wurden schnell beseitigt. Wie es dazu kam, was darüber gesagt und was verschwiegen wird, das sagt viel aus über ein gesellschaftliches Klima in Ungarn, das von Misstrauen und gegenseitigen Schuldzuweisungen geprägt ist.

Radnótis Denkmal ist in der Nacht vom 16. auf den 17. November zerstört worden. So viel steht fest. Die Statue kippte, nur die Füsse blieben stehen. Die Hecke hinter der Statue wurde nur leicht beschädigt. Die Polizei fand sechs Kilometer weiter einen schwarzen Mercedes mit schweren Schäden an Front und Windschutzscheibe. Sie stellte fest, dass das Denkmal mit diesem Wagen gerammt worden sei. Der Fahrer blieb vorerst verschollen.

Über den Vorfall berichteten zuerst die lokale Tageszeitung «Kisalföld» und die deutsche Presseagentur DPA. Etliche Medien im deutschsprachigen Raum übernahmen die Meldung. Beim angeblichen Unfall handle es sich in Wahrheit um einen antisemitischen Anschlag, hiess es in einem Zeitungsbericht. Beweise für diese These gibt es nicht, die Vermutung ist aber auch nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Aktionen der rechtsextremen Szene

Radnóti wird von den ungarischen Nationalisten gehasst, weil er jüdischer Abstammung und Mitglied der kommunistischen Partei war. Das Denkmal bei Győr war schon einmal Ziel eines Anschlags: Vor ein paar Jahren wurde es mit roter Farbe übergossen. An jenem Wochenende im November 2013, als es zerstört wurde, fanden an anderen Orten in Ungarn Kundgebungen rechtsextremer Gruppen statt. In Budapest marschierte die verbotene Ungarische Garde in voller Montur durch die Strassen. In Miskolc verbrannten Neonazis Bücher von Schriftstellern, darunter die Werke Radnótis. Einige Tage zuvor wurde in Budapest eine Büste des antisemitischen Staatschefs Miklós Horthy eingeweiht. Die rechtsextreme Szene war also ziemlich aktiv in diesen Tagen.

Die von der ungarischen Regierung kontrollierte Nachrichtenagentur MTI vermittelte in ihrem Bericht jedoch den Eindruck, das Denkmal sei nicht absichtlich zerstört worden: Die Polizei suche nach dem Verursacher eines Verkehrsunfalls. Am 19. November veröffentlichte die Pressestelle der Regierung ein kurzes Communiqué zu dem Fall: Ein Autofahrer habe die Kontrolle über seinen Wagen verloren und die Statue gerammt. Obwohl die Polizei noch ermittelte, wusste die Regierung schon, dass die Tat sicher keinen antisemitischen Hintergrund haben könne.

Sieht die ausländische Presse Gespenster?

Der 24-jährige Fahrer des Mercedes stellte sich am selben Tag, kurz nach 14 Uhr, der Polizei. Er stammt aus der Gemeinde Pápa und sagte aus, dass er in der Nacht bei dichtem Nebel bei der Fahrt nach Győr das Denkmal am Strassenrand übersehen habe. Er sei in Panik geraten und weitergefahren, sechs Kilometer weiter sei ihm aber das Benzin ausgegangen. Er habe den Wagen stehen lassen und sei per Autostopp und mit dem Bus nach Hause gefahren. Diese Darstellung wurde eins zu eins von der Regierungspressestelle übernommen. Mit dem Zusatz: Das Denkmal werde von Behörden der Region Győr untersucht und renoviert.

Für die regierungsnahen Medien war die Angelegenheit damit keineswegs erledigt. Die «Budapester Zeitung» fragte, warum die internationale Presse nun schweige, und sie verlangte eine Entschuldigung für den Verdacht, das Denkmal könne Opfer eines antisemitischen Anschlags gewesen sein. Die besonders regierungsfreundliche deutschsprachige Zeitung unterstellte ausländischen Journalisten, sie hätten einen banalen Discounfall zu einem Skandal aufgebauscht. Als Kronzeugen zitierte die Zeitung einen Rechtsanwalt, der auf seinem Ungarn-Blog die Regierung Orbán gegen Kritik und Angriffe aus dem In- und Ausland verteidigt.

Darstellung der Polizei kann nicht stimmen

Die Informationen, auf die sich die «Budapester Zeitung» und die mit der Regierung sympathisierenden Blogger und Medien berufen, kommen von Polizei und Regierungspressestelle. Offenbar hat sich niemand die Mühe gemacht, sie vor Ort nachzuprüfen. Denn die Darstellung der Polizei ist durch einen Augenschein vor Ort leicht zu widerlegen.

Das Denkmal steht am Ende einer schmalen Sackgasse, die vor langer Zeit einmal die Hauptstrasse Richtung Wien war. Heute führt die Hauptstrasse etwa 10 Meter weiter nördlich vorbei. Um das Denkmal zu rammen, hätte ein Auto, das aus Richtung Győr kommt, erst eine Leitplanke durchbrechen und durch einen Graben fahren müssen. Wäre es aus der anderen Richtung gekommen, hätte es etwa 20 Meter durch eine Wiese fahren müssen, wäre dann aber nicht in der Granitstatue, sondern in der Hecke hinter dem Denkmal gelandet. Für beide Varianten gibt es keinen Hinweis: Es gibt in der Wiese keine Reifenspuren, die Leitplanke ist unbeschädigt.

Die Statue wurde also höchstwahrscheinlich durch einen frontalen Aufprall zerstört. Daraus folgt aber, dass der Wagen (wenn das Denkmal tatsächlich durch ein Auto zerstört wurde) nicht auf der Hauptstrasse nach Győr unterwegs sein und nach der Kollision auch nicht sofort weiterfahren konnte. Denn hinter der Statue war der Weg zu Ende. Der Fahrer hätte nach einem komplizierten Wendemanöver mit einem schwer beschädigten Fahrzeug zurückfahren und im dichten Nebel die Abzweigung auf die Hauptstrasse finden müssen. Vielleicht war es so. Auf alle Fälle entspricht es nicht der Darstellung der Polizei.

Wer in Nacht und Nebel auf ein Hindernis zufährt, würde wohl in letzter Sekunde eine Notbremsung versuchen. Das sagte laut Polizei auch der Fahrer aus: Er habe noch gebremst, allerdings zu spät, um den Aufprall zu verhindern. Nur: Bremsspuren sind auf den Pflastersteinen nicht zu sehen.

Anschlagstheorie passt nicht zum Holocaust-Gedenkjahr

Die ungarische Regierung hat 2014 zum Holocaust-Gedenkjahr erklärt. Viele Veranstaltungen sind geplant. Im alten Bahnhof Josefstadt, von dem 70 Jahre zuvor die Deportationszüge nach Auschwitz abfuhren, wird ein Museum für die deportierten Kinder eingerichtet. Ungarn stellt sich seiner Vergangenheit, und die Botschaft der Regierung lautet: Es gibt heute nicht mehr oder weniger Antisemitismus als in anderen europäischen Ländern. Die mutwillige Zerstörung des Denkmals eines jüdischen Dichters würde nicht zu dieser Botschaft passen. Aber würde die Regierung deshalb den Vorfall vertuschen wollen? Diesen Verdacht hegen neben regierungskritischen Medien in Ungarn auch kulturelle Organisationen und die oppositionellen Sozialisten.

Der «Tages-Anzeiger» fragte die Pressestelle der Polizei, ob es weitere Erkenntnisse zur Zerstörung des Denkmals gebe und ob ein rechtsextremer, antisemitischer Hintergrund ausgeschlossen werden könne. Als Antwort schickte die Polizei lediglich ihre Pressemeldung vom 19. November. Mit dem Zusatz, dass weiterhin wegen eines Verstosses gegen die Verkehrsregeln ermittelt werde.

Neue Radnóti-Statue in Planung

Die Spuren der Kollision, ob sie nun mutwillig war oder nicht, wurden sehr schnell beseitigt, obwohl die Ermittlungen noch laufen. Die Zypressenhecke wurde vollständig abgetragen, der Platz gesäubert. Ausser der alten Tafel mit blasser Schrift erinnert nichts mehr an das Denkmal. Der Bildhauer Miklós Melocco, der die Granitstatue vor 33 Jahren entwarf, will nun eine Replika anfertigen. Győrs Bürgermeister Zsolt Borkai, der der Regierungspartei Fidesz angehört, hat die Finanzierung versprochen. Wann und ob das Denkmal am selben Platz wieder aufgestellt wird, ist ungewiss.