Ungarn tut sich schwer mit dem Holocaust-Gedenkjahr

28. Januar 2014

Präsident Janos Ader hat sich zur ungarischen Mitschuld an der Vernichtung der Juden bekannt. Trotzdem gibt es Kritik aus dem In- und Ausland.

Von Bernhard Odehnal, Wien 70 Sekunden lang blieben gestern Abend in Ungarn die Radio- und Fernsehgeräte stumm. Die Regierung hatte zu diesem Moment des Trauerns aufgerufen, um der Opfer des Holocausts zu gedenken. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. 2005 wurde dieser Tag zum internationalen Gedenktag erklärt. Dieses Jahr nahm an der Feier in Auschwitz auch der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter teil.

In Ungarn war der gestrige Tag auch Auftakt zum Holocaust-Gedenkjahr, in dem der Vernichtung der ungarischen Juden gedacht wird. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im März 1944 wurden innert weniger Wochen 440 000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert. Die meisten wurden sofort nach der Ankunft ermordet. Insgesamt starben 600 000 ungarische Juden im Holocaust.

Umstrittener Opfermythos

Die Deportation erfolgte mithilfe ungarischer Behörden, vor allem Gendarmerie und Eisenbahnverwaltung. Als Staatschef Miklos Horthy die Deportationen auf internationalen Druck hin stoppen liess, wurde er von den Nazis durch eine Marionettenregierung der faschistischen Pfeilkreuzler ersetzt. Ihr Plan, auch die Budapester Juden zu ermorden, scheiterte am diplomatischen Einsatz des Schweden Raoul Wallenberg und des Schweizers Carl Lutz sowie am Vormarsch der Roten Armee.

Staatspräsident Janos Ader bekannte sich am Montag zur «Mitschuld ungarischer Institutionen», Ungarns Botschafter bei den Vereinten Nationen hatte sich vor einigen Tagen offiziell für die ungarische Beteiligung am Holocaust entschuldigt. Dennoch beginnt das Holocaust-Gedenkjahr mit lauten Misstönen und heftiger Kritik.

Im Fokus steht ein neues Denkmal, das am 19. März, dem Jahrestag der deutschen Okkupation, eingeweiht wird: Eine überlebensgrosse Figur des Erzengels Gabriel stellt Ungarn dar, auf das ein schwarzer Adler (das Dritte Reich) herabstösst. Dahinter stehen 13 gebrochene Säulen symbolisch für alle Opfer der Gewaltherrschaft. Das Denkmal wurde überhastet von der regierenden Partei Fidesz beschlossen, ohne dass das Vorhaben öffentlich diskutiert oder der Bau des Denkmals öffentlich ausgeschrieben worden wäre. Das Denkmal wird auf dem zentralen Freiheitsplatz errichtet, als ein Gegengewicht zu einem Denkmal der Roten Armee, das dort seit 1945 steht.

Die Gegner des Denkmals kritisieren vor allem die Fortschreibung des OpferMythos. Dass Ungarn bereits unter Horthy ein treuer Vasallenstaat Nazideutschlands war und Truppen für Hitlers Eroberungskrieg stellte, werde völlig ausgeblendet. Ebenso die Vernichtung der ungarischen Juden vor der Okkupation: Bereits 1941 deportierte die ungarische Armee Zehntausende Juden aus besetzten Gebieten in der Ukraine und Jugoslawien. Nahe der Stadt Kamenez-Podolsk (in der heutigen Ukraine) wurden in einer deutsch-ungarischen Gemeinschaftsaktion über 23 000 Juden ermordet.

Mit diesem Teil der Geschichte beschäftigen sich die Veranstaltungen im Holocaust-Gedenkjahr jedoch nicht. Im Gegenteil: Der Leiter des Forschungsinstituts Veritas, Sandor Szakaly, bezeichnete die Deportation der Juden nach Kamenez-Podolsk als «fremdenpolizeiliche Massnahme». Veritas wurde von der Regierung Orban gegründet, um die Geschichte der vergangenen 150 Jahre neu zu interpretieren und sie in «würdevoller Weise» darzustellen.

Der Dachverband jüdischer Gemeinden Ungarns (Mazsihisz) bezeichnet solche Aussagen als Geschichtsfälschung und Verharmlosung des Holocaust: Der Leiter von Veritas müsse zurücktreten. Mazsihisz droht mit einem Boykott des Holocaust-Gedenkjahrs. 26 ungarische Historiker protestieren in einem offenen Brief gegen die Errichtung des Okkupations-Denkmals und fordern die Regierung auf, «mit der Fälschung unserer Geschichte aufzuhören».

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Am Wochenende gab der US-Historiker und Holocaustexperte Randolph L. Braham einen Verdienstorden zurück, den er 2011 von der ungarischen Regierung erhalten hatte. Der Versuch einer Weisswaschung des Horthy-Regimes schockiere ihn, schrieb Braham. Ausserdem entzog er dem Budapester HolocaustGedenkzentrum die Berechtigung, eine Informationsabteilung unter seinem Namen zu betreiben. Die ungarische Philosophin Agnes Heller bezeichnete das Gedenkjahr als durchsichtigen Versuch der Regierung, das negative Image Ungarns im Ausland zu verbessern. Zur selben Zeit flirteten Orban und seine Partei «offen und unverschämt mit den Judenhassern von Jobbik». Diese Politik sei an «Zynismus nicht zu überbieten».

Bis jetzt reagiert die ungarische Regierung kaum auf die harte Kritik. In einem offenen Brief an die jüdische Organisation Mazsihisz verwahrte sich Orban gegen alle Versuche, das Okkupationsdenkmal in die Tagespolitik hineinzuziehen. Fidesz-Fraktionschef Antal Rogan bezeichnete die Rückgabe des Verdienstordens durch Historiker Braham als «übertriebene Reaktion».