«Unsere Stadt wurde verraten»

20. Januar 2016

Deir al-Zor, im Osten Syriens, steht kurz vor der Eroberung durch den Islamischen Staat. In Wien versuchen geflüchtete Bewohner verzweifelt, Nachrichten von ihren Freunden und Verwandten zu bekommen. 

Die neusten Nachrichten lassen nichts Gutes erwarten: Der Oberbefehlshaber der syrischen Regierungstruppen, Mohammed Kaddur, habe Deir al-Zor verlassen. Der Generalmajor sei im Kampf verwundet und nach Damaskus ausgeflogen worden, heisst es auf einer Internetsite der syrischen Regierung. «Aber das stimmt nicht», glaubt Omar B. «Unsere Stadt wurde verraten. Sie soll dem Islamischen Staat überlassen werden.» 


Strasse in Deir al-Zor nach eine Bombenangriff der Regierungsarmee. 

Omar, der in Wirklichkeit anders heisst, hat das ostsyrische Deir al-Zor längst verlassen. Im September kam er über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Österreich, wo er um Asyl ersuchte. Jetzt sitzt der 35-Jährige in einer Altbauwohnung in einem Wiener Arbeiterquartier vor einem Stadtplan seiner Heimatstadt, neben ihm sein gleichaltriger Cousin Ahmad, der mit seiner Frau und drei kleinen Kindern ebenfalls fliehen konnte. Auch er möchte aus Angst um seine Eltern in Syrien nicht mit richtigem Namen genannt werden. 

Mit dem Kugelschreiber zeichnet Omar Kreise und Linien auf den Stadtplan: «Hier, den Stadtteil im Nordosten halten noch die Regierungstruppen, da leben vielleicht 100 000 Menschen. Über die Hauptstrasse ist dieses Gebiet mit dem Flughafen im Osten verbunden. Auch die Universität und das Al-Assad-Spital im Süden sind noch in den Händen der Regierung. Aber das Stadtzentrum und das gesamte Umland im Westen, Norden und Osten werden von Daesh kontrolliert.» 

Die Truppen des Islamischen Staats (IS, im Arabischen «Daesh» genannt) eroberten im Frühjahr 2013 grosse Teile von Deir al-Zor sowie das Umland mit den Ölfeldern. Seither sind Regierungstruppen und Zivilbevölkerung im Nordwesten eingeschlossen. Der Weg nach Damaskus im Süden wurde vom IS durch die Eroberung der Wüstenstadt Palmyra abgeschnitten. Bis vor wenigen Tagen konnten Omar und Ahmad noch mit ihren Verwandten in den eingeschlossenen Stadtteilen telefonieren. Diese berichteten von Hungersnot und Verzweiflung: Strom gab es schon lange nicht mehr, nun gibt es kein Trinkwasser und keine Lebensmittel mehr. 

Das war vor der jüngsten IS-Offensive. Dann fiel das Mobilnetz aus. Letzten Samstag sollen beim Angriff der Islamisten bis zu 300 Zivilisten getötet und 400 verschleppt worden sein. Für den IS ist die Kontrolle der Stadt und der gleichnamigen Provinz wichtig, da durch sie der Versorgungsweg von der IS-Hauptstadt Raqqa in den Irak führt. 

Gräuelpropaganda 

Im fernen Wien hielten Omar und Ahmad bis zuletzt über Facebook oder Whatsapp Kontakt zu Freunden und Verwandten in der umkämpften Stadt. Jetzt bleiben nur die Informationskanäle der Kriegsparteien. Die Internetseiten des IS jubeln über die neusten Eroberungen und dokumentieren Exekutionen feindlicher Soldaten und sogenannter «Feinde des Islam» in allen grässlichen Details. «Das ist von heute», zeigt Ahmad auf den Bildschirm seines Handys. Das Foto zeigt einen ISKämpfer neben einem Tisch, auf dem ein abgeschnittener Kopf liegt: «Es ist aus Deir al-Zor.» 

Auch die Gegenseite spart nicht mit Gräuelpropaganda. Ahmad zeigt ein Foto, das Regierungssoldaten ins Netz stellten. Darauf ist ein LKW zu sehen, an dessen Ladebord die nackten Körper getöteter IS-Kämpfer hängen. Auch dieses Bild wurde in Deir al-Zor gemacht. 

Beinahe im Stundentakt surfen Omar und Ahmad durch das Netz auf der Suche nach neuen Informationen aus ihrer Heimatstadt. Sie haben sonst auch nicht viel zu tun. Arbeiten dürfen sie nicht in Österreich, nur warten auf den Asylbescheid. Sie rauchen zu viel und trinken arabischen Kaffee, schwarz, mit Zucker und Kardamom. Für halbwegs verlässlich halten sie die Informationskanäle der Armee und die Website der Freien Syrischen Armee, einer Koalition von Rebellen. Doch sie musste die Provinz schon längst den Islamisten überlassen. 

Schon über vier Jahre dauert der Krieg in Deir al-Zor. Von den 220 000 Einwohnern ist etwa die Hälfte geflüchtet. Die Stadt am Euphrat stand nie so sehr im Zentrum der Berichterstattung internationaler Medien wie etwa Aleppo, Homs, Palmyra oder zuletzt Madaya. Dabei sei die Hungersnot in Deir al-Zor nicht weniger schlimm als in Madaya, sagt Omar. Russische Jets bombardieren die Dörfer in der Umgebung, in denen sich der IS festgesetzt hat. Syrische Helikopter werfen über der Stadt Brot für die Soldaten Bashar al-Assads ab. Manchmal verkaufen die Soldaten dann ihr Essen an Zivilisten. 

Stadt des Wassers und des Erdöls 

Deir al-Zor galt einmal als die Stadt des Wassers. An den Ufern des Euphrat blühte die Landwirtschaft, in der Stadt gab es Obst und Gemüse im Überfluss. Die sieben Brücken waren der ganze Stolz der Städter, besonders die 1925 unter französischer Besatzung gebaute Hängebrücke. Alle wurden im Krieg zerstört; heute kann der Euphrat nur mehr im Boot überquert werden. 

Deir al-Zor galt auch als Stadt des Erdöls. Im Osten der Provinz liegen die reichsten Öl- und Gasfelder Syriens, die unter anderem vom Konzern Shell ausgebeutet wurden. Heute sind die Felder in den Händen des IS. Vor dem Krieg fanden viele Bewohner der Stadt Jobs bei den Ölkonzernen, andere kamen in der aufgeblähten Bürokratie des Staates unter. Die Gehälter waren nicht schlecht, Deir al-Zor galt als reich. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung war dennoch gross, denn wer dem Assad-Regime nicht genehm war, verlor schnell seine Arbeit oder landete im Gefängnis. Omar hatte Englisch studiert, doch einen Job bekam er danach nicht. Als am 15. März 2011 die Menschen in der Stadt zum ersten Mal gegen das Regime demonstrierten, war er dabei: «Alles war friedlich, entspannt, wir waren überzeugt, dass Assad innert weniger Wochen zurücktreten würde.» Der Machthaber in Damaskus aber setzte auf Gewalt. Im August 2011 schoss die Armee zum ersten Mal auf die Demonstranten in Deir al-Zor, danach eroberte die Freie Syrische Armee die Stadt, dann wieder die Regierungsarmee. Im Frühjahr 2013 kam der IS. 

Hatten die Islamisten Verbündete in Deir al-Zor? Nur wenige, glaubt Omar: Die meisten Kämpfer seien aus dem Irak, aber auch aus Deutschland, Frankreich oder Tschetschenien gekommen. «Sie hatten von Syrien keine Ahnung, sie waren überrascht, dass in Deir al-Zor Muslime leben. Sie wollen nur kämpfen, kämpfen, kämpfen.» Assads Truppen schlugen aus der Luft zurück. Das Stadtzentrum wurde zerstört. 

Omar ging nach Palmyra, dort glaubte er sich sicher. Warum sollte der IS die antiken Ruinen angreifen? Ahmad blieb mit seiner Frau Leyla und den Kindern in ihrem Quartier. Bald waren sie Gefangene der eigenen Staatsmacht. Wer das belagerte Quartier verlassen wollte, musste Fluchtgeld an die Armee zahlen, bis zu 1200 Dollar pro Person. Wer ohne zu zahlen versuchte, die Frontlinie zu überqueren, wurde verprügelt. Erst von Soldaten der Regierung, dann vom IS. 

Ahmad blieb noch eine Weile ohne seine Familie in der Stadt. Er hatte einen Job beim Staat und musste täglich zur Arbeit gehen, während die Granaten des IS einschlugen. Vom Militärdienst konnte er sich freikaufen, doch je schwächer die Verteidiger wurden, desto brutaler rekrutierten sie menschlichen Nachschub. Ahmad sah, wie Männer von der Strasse weg zwangsverpflichtet wurden. Auch in Assads Armee dienten ausländische Söldner, sagt er. In Deir al-Zor sah Ahmad Iraner, Russen, auch Chinesen. 

Ein mutiger syrischer Journalist mit Spitznamen Steve dokumentierte die Repression in den vom IS kontrollierten Stadtteilen ebenso wie die Zerstörungen durch die Bomben der syrischen Armee. Letzten Herbst fanden ihn die IS-Schergen. Steve wurde beschuldigt, den «Ungläubigen» zu helfen, und Anfang Dezember durch einen Genickschuss getötet. Die Henker banden ihm zuvor noch seine Kamera um den Hals. Omar kannte den Fotografen gut, sie waren Freunde. Nun ist Steve für ihn ein Märtyrer und Held. Hinter dem IS, glaubt Omar, stehe eine «grosse Macht». Wer das ist, kann er aber nicht sagen: vielleicht der Iran, vielleicht Russland, vielleicht auch die USA. 

Schmiergeld für den General 

Anfang August 2015 stand Ahmad dann in der Nobelvilla von Generalmajor Kaddur und zahlte 1200 Dollar, um freies Geleit aus dem Kriegsgebiet zu bekommen. Dafür hatte er seinen letzten Besitz, sein Auto, verkauft. Körperlich war er am Ende: «Während acht Monaten Belagerung habe ich 20 Kilo abgenommen.» Er holte seine Familie aus der Provinz, und gemeinsam gelang ihnen die Flucht in die Türkei. Dort traf er seinen Cousin Omar wieder, der in letzter Sekunde vor der Eroberung von Palmyra hatte flüchten können. Gemeinsam wollten sie nach Deutschland, gemeinsam blieben sie in Österreich hängen. Nun warten sie auf eine Entscheidung über ihre Asylanträge. «Vielleicht bin ich zu weit gegangen», sinniert Omar, «vielleicht hätte ich in Istanbul bleiben sollen.» 

Deir al-Zor werde in die Hände des IS fallen, da sind sich Omar und Ahmad sicher: «Das ist eine Frage weniger Tage.» Und dann? Die Islamisten werden bleiben, glaubt Omar: «Syrien wird zweigeteilt.» 

In Wien suchen die beiden nach anderen Familien aus Deir al-Zor, doch sie haben noch keine gefunden. Viele sind wahrscheinlich in Deutschland, andere in Schweden. Die stolze Bevölkerung der Stadt am Euphrat wurde in alle Windrichtungen zerstreut. Die bunten Märkte, grünen Palmenhaine und die mächtige Hängebrücke existieren nur mehr als Bilddateien in den Mobiltelefonen der Geflüchteten. «So, wie es damals war», sagt Omar, «wird es nie wieder sein.»