«Wenn Russlands Vorherrschaft bedroht ist, macht Moskau immer einen Nazivergleich»

9. September 2014

Der ukrainische Politologe Anton Schechowtsow erklärt die Taktik des Kremls und den Einfluss rechtsextremer Gruppen in seinem Land.

Wladimir Putin und russische Medien warnen ständig vor der faschistischen Gefahr in der Ukraine. Wie stark sind rechtsextreme und neonazistische Gruppen wirklich?

Swoboda, eine sehr rechte, aber nicht rechtsextreme Partei, betrachtete sich selbst als Avantgarde der Revolution. Die Menschen auf dem Maidan sahen das jedoch anders. Swobodas Kandidat scheiterte bei den Präsidentenwahlen. Während der Revolution tauchte der Rechte Sektor auf, ein Zusammenschluss von einer national-konservativen, einer rechtsradikalen und einer kleinen Neonazigruppe. Eine dieser Gruppen, die Sozial-nationale Allianz SNA, spaltete sich ab und gründete im Mai einen militärischen Arm, das Bataillon Asow.

Ist dieses Bataillon rechtsradikal?

Es verwendet neonazistische Symbole, untersteht aber dem Kommando des Innenministeriums. Der ideologische Unterbau kommt eher von der SNA. Das sind Rassisten, es geht ihnen um die Vorherrschaft der weissen Rasse. Aber wenn du weiss bist, ist ihnen egal, ob du russisch oder ukrainisch sprichst.

Einer der Favoriten bei den Parlamentswahlen im Oktober, Oleh Ljaschko, soll Verbindungen zum Asow-Bataillon haben.

Ljaschko benutze Asow für seine eigene Propaganda. Er ging mit dem Bataillon an die Front, liess sich in Uniform fotografieren. Aber er kämpfte nie. Asow musste sich dann auf Druck des Gouverneurs von Dnipropetrowsk, des auch in Genf lebenden Oligarchen Ihor Kolomojski, von Ljaschko distanzieren. Sonst hätte Kolomojski die Finanzierung des Bataillons beendet. Jetzt ist Ljaschko mit seiner «Radikalen Partei» unterwegs.

Und wird laut Umfragen bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober sehr gut abschneiden.

Ja, Ljaschkos Partei liegt an zweiter Stelle. Dabei hat sie keine Struktur, keine Regionalbüros. Die Kandidaten auf seiner Liste haben sich die Plätze erkauft. Ljaschko ist Populist, aber nicht einmal sehr rechts. Er hat keine Ideologie, er produziert nur Slogans. Aber er ist jetzt beliebt, weil die ukrainische Gesellschaft nach den Niederlagen ihrer Armee im Donbass unter enormem Stress steht. Die Menschen suchen Trost in einfachen Parolen und unrealistischen Lösungsvorschlägen.

Was würde Ljaschkos Sieg für die Ukraine bedeuten?

Dass er gekaufte Leute ins Parlament bringt. Das könnten auch Neonazis sein. Vor allem werden sie aber korrupt sein.

Ist Korruption das grosse Problem der ukrainischen Politik?

Ja. Rechtsextremismus diente in der Ukraine immer auch als politisches Werkzeug. Die ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma und Wiktor Janukowitsch haben rechtsextreme Gruppen nicht erschaffen. Aber sie übertrieben bewusst deren Bedeutung als Argument für die Zerschlagung der Opposition.

Wieso können Russlands Regierung und russische Medien das Bild einer von faschistischen Kräften beherrschten Ukraine zeichnen?

Auf dem Maidan waren Swoboda und der Rechte Sektor die sichtbarsten Gruppen. Und im Rechten Sektor war die Neonazigruppe «Weisser Hammer» am sichtbarsten. Insgesamt war das nur ein kleiner Teil der Bewegung. Aber Russland benutzt die Bilder, um die gesamte Maidan-Bewegung als faschistisch zu brandmarken. Der Trick ist nicht neu. Als sich die Ungarn 1956 erhoben, wurden sie von Moskau als Faschisten denunziert. Immer, wenn die russische Vorherrschaft bedroht ist, macht Moskau einen Nazi-Vergleich.

Funktioniert Sie auch immer?

Nicht in der Ukraine 2004. Die Orange Revolution war keine Massenbewegung, sondern wurde von Wiktor Juschtschenko und seinen Helfern organisiert. So konnten sie die Regeln bestimmen: Keine rechtsextremen Fahnen und Symbole. 2013 kam der Maidan aber von unten. Niemand hatte die Kontrolle. Tausend Demonstranten hielten Transparente mit demokratischen Slogans hoch, und daneben gab es ein Hakenkreuz. Natürlich konzentrieren sich die Kameras auf das Hakenkreuz. Das ist ein Medienphänomen: Faschistische Politik ist sexy.

War die russische Propaganda darauf vorbereitet?

Die gesamte Ukrainekrise war lange vorbereitet worden. 2004 wurde Putin von der Orangen Revolution überrascht und fürchtete, dass das auch in Russland passieren könnte. Deshalb begann die Kreml-Administration, separatistische Bewegungen in der Ukraine zu unterstützen. Sie finanzierte die Gründung der Eurasischen Jugendbewegung, die vom nationalistischen russischen Ideologen Alexander Dugin beeinflusst wurde. 2005 wurde eine Organisation namens «Republik von Donezk» gegründet. 2006 trafen die Führer dieser Organisation auf einem Sommercamp die Eurasische Jugend. Sie sollen auch von Mitgliedern russischer Geheimdienste im Guerillakampf trainiert worden sein. Dieselben Leute haben in diesem Jahr die «Volksrepublik Donezk» ausgerufen.

Putin wusste also schon lang, dass ihm diese Organisationen nützlich werden könnten?

Für Putin war das ein Plan B. Er wollte nicht wirklich Krieg, er wollte die Ukraine in die Eurasische Union integrieren. Das war sein Plan A. Die Maidan-Revolution machte diesen Plan zunichte, also kam Plan B zum Zug. Die unabhängige Ukraine war Putin schon lange ein Dorn im Auge. Er sagte schon vor einem Jahrzehnt zum damaligen US-Präsidenten George W. Bush, dass die Ukraine nicht einmal ein richtiger Staat sei.

Dasselbe sagt Putin jetzt über Kasachstan.

Ja, da sollten die Alarmglocken läuten. 2008 warnte Putin auf dem Nato-Gipfel in Bukarest, dass wenn sich die Nato in der Ukraine einmische, der Staat gefährdet sei. Vor einem Jahr wiederholte ein Berater Putins diese Drohung, nur in Bezug auf das Abkommen mit der EU.

Hätte der Westen Putin besser zuhören sollen?

Auch in der Ukraine hat niemand diese Drohungen ernst genommen. Ich hielt die Separatisten und Eurasisten ebenfalls für zu klein und unbedeutend. Ich verstand nicht, dass diese Leute von Russland militärisch unterstützt werden könnten. Genau das ist geschehen. Aus eigener Kraft wären sie sofort besiegt worden. Ihre Stärke sind ausschliesslich russische Waffen und die russischen Freiwilligen.

Wird Putin stark von der Eurasischen Bewegung und Leuten wie Dugin beeinflusst?

Dugin ist nicht der Ideologe des Kreml, aber er hat Einfluss durch informelle Kanäle. Bedeutender ist die Veränderung der Machtstruktur im Kreml. Früher gab es zwei Gruppen: Die Pragmatiker, die Modernisierung und eine starke Wirtschaft wollten, und die Silowiki, die Vertreter der Armee und der Geheimdienste. Sie sind ultranationalistisch, imperialistisch, manche auch christlich fundamentalistisch. Sie schoben die Pragmatiker zur Seite. Westliche Sanktionen treffen sie kaum, weil sie keine Bankkonten in der Schweiz haben. Einige würden sogar die Isolation Russlands begrüssen, damit sie wieder den Eisernen Vorhang errichten könnten.

Zurück zur UdSSR?

Aber mit starkem Nationalismus. Das ist neu. Die Silowiki glauben, dass der Westen immer schon Russland zerstören wollte. Sie sind gegen die USA, sie sehen Europa als dekadent und unterwandert von Homosexuellen. Russland ist für sie das bessere Europa: Der Bewahrer des echten europäischen Geistes. Putin ist von der Silowiki-Fraktion abhängig. Ich glaube nicht, dass er sich dabei unwohl fühlt. Er kommt ja aus dem KGB.

Welche Rolle spielen russische rechtsextreme Gruppen?

Putin konnte sie zu Beginn des Konflikts als Freiwillige in die Ukraine schicken. Die reguläre Armee kam erst später ins Spiel. Einige Führer der Separatisten kamen aus ultranationalen Bewegungen, so wie Igor Girkin alias Strelkow. Diese Leute haben aber keinen Einfluss im Kreml. Sie werden benützt.

Wieso kommt Putins Unterstützung im Westen sowohl von linken als auch extrem rechten Gruppen?

Die europäische Linke war früher prosowjetisch. Jetzt ist sie prorussisch. Sie teilt mit Moskau die strikte Ablehnung der Globalisierung und der USA. Sie unterstützt Russland, obwohl dort eine autoritäre Kleptokratie herrscht. Und gerade dieses autoritäre Regime fasziniert die europäische extreme Rechte. Ungarns Regierungschef Viktor Orban spricht schon offen vom Aufbau eines nichtdemokratischen Staates. Auch für andere osteuropäische Länder werden Russland und China zunehmend Vorbilder. Je erfolgreicher Putin in der Ukraine ist, desto schlechter ist das für die Demokratie in der EU.

Welche Parteien in der EU haben den engsten Kontakt zum Kreml?

Die Rechtspopulisten in Frankreich, Österreich, Ungarn, Bulgarien. Es gibt die Vermutung, dass die bulgarische Partei Ataka nicht nur vom Kreml finanziert wird, sondern mit russischem Geld gegründet wurde.

Unterstützt Russland auch andere Parteien finanziell?

Es gibt dafür keine konkreten Beweise. Wahrscheinlich fliesst das Geld nicht direkt, sondern über russische Unternehmen, die in der EU tätig sind.

Geht der Kontakt eher von Russland oder den europäischen Parteien aus?

Russland hat daran grösseres Interesse. Es möchte seine weltpolitische Bedeutung wiederherstellen und will dazu den Westen schwächen. Die rechtspopulistischen Parteien sind gegen die EU, also glaubt Wladimir Putin, dass ihr Erfolg gut für Russland wäre.

Wird der Waffenstillstand in der Ostukraine halten?

Nein, ich habe nie geglaubt, dass Abkommen mit dem Kreml halten könnten. Ein Waffenstillstand ist sicher nicht Wladimir Putins Plan. Der russische Staatschef verletzte schon bisher eine ganze Reihe bilateraler und internationaler Abkommen mit der Ukraine. Man kann ihm nicht vertrauen.

Anton Schechowtsow: Der Politikwissenschaftler gilt als einer der führenden Rechtsextremismus-Experten in Osteuropa. Zurzeit hält er sich für ein Forschungsprojekt in Wien auf.