Die Verhafteten im Flüchtlingsdrama in Österreich gehören zu einer ungarisch-bulgarischen Schlepperbande
Wien Hunderte Kerzen stehen vor dem Eingang zum Budapester Ostbahnhof. Sie wurden aufgerichtet zum Gedenken an jene 71 Menschen, die irgendwann zwischen Montag und Mittwoch im hermetisch verschlossenen Laderaum eines Lastwagens auf der Autobahn zwischen Budapest und Wien ums Leben kamen. Vermutlich waren sie qualvoll erstickt. Die Kerzen stammen von einer Gedenkkundgebung der ungarischen Organisation «Solidarität mit Migranten» (Migszol) am Freitagabend. Migszol betreut unter anderem Flüchtlinge, die vor dem Ostbahnhof in einer sogenannten Transit-Zone zwischen Bahnhof und Metrostation lagern.
Migszol-Mitarbeiter vermuten, dass sie einige der Opfer im LKW zuvor in Budapest betreut haben. Denn alle, die hier stranden, wollen weiter in den Westen, durch Österreich nach Deutschland oder Skandinavien. Da die Polizei den Bahnhof aber rigoros überwacht und Flüchtlinge selbst dann aus den Zügen nach Wien oder Zürich holt, wenn sie gültige Billette haben, bleibt für die meisten nur der illegale Grenzübertritt in Kleinbussen oder Lastwagen. «Europa, deine Hände sind mit Blut bedeckt», heisst es auf einer Papptafel.
Hoffnung auf Infos nach der Auswertung der Mobiltelefone
Auch in Österreich fanden gestern erste Mahnwachen und Gedenkveranstaltungen statt. In der oberösterreichischen Stadt Wels stellte ein Kulturzentrum 71 Kerzen auf 71 schwarzen Boxen auf. In Wien ruft eine Privatinitiative für morgen Montag zu einer Kundgebung «Mensch sein in Österreich» auf. Am Rande jener Pannenbucht nahe der Gemeinde Parndorf, in der vergangenen Mittwoch der LKW entdeckt und von der Polizei zum ersten Mal geöffnet worden war, wurden Blumen niedergelegt und Kerzen entzündet.
Die österreichische Polizei setzt inzwischen die Ermittlungsarbeit fort. Die Leichen der 59 Männer, 8 Frauen und 4 Kinder wurden nach Wien gebracht. Dort werden sie nun von Gerichtsmedizinern obduziert. Bei einem Toten wurde ein syrischer Ausweis gefunden, bei etlichen anderen auch Mobiltelefone. Von der Auswertung der Telefonnummern erhofft sich die Polizei Kontakt zu Verwandten und Freunden der Verstorbenen. Es gehe dabei aber auch um die Sicherung von Beweismaterial, sagte der burgenländische Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil gestern in einem Radiogespräch: Es könne nicht ausgeschlossen werden, «dass die Opfer noch unmittelbar vor ihrem Tod telefonierten oder gar Videos aufnahmen».
Im ungarischen Kecskemét wurden gestern Samstag jene vier Männer vernommen, die im Zusammenhang mit den Toten im LKW am Freitag verhaftet wurden. Es handelt sich um drei Bulgaren und einen Afghanen. Ihnen wird geschäftsmässig organisierter Menschenhandel vorgeworfen. Die vier Verdächtigen werden bis zum 29. September in Untersuchungshaft bleiben, wie der vorsitzende Richter Ferenc Bicskei am Samstag sagte. Das Gericht kam damit der Forderung der Staatsanwaltschaft nach. Diese hatte auf die «aussergewöhnliche Schwere des Verbrechens» verwiesen. Die österreichische Polizei vermutet, dass die Verdächtigten zur untersten Ebene einer ungarisch-bulgarischen Schlepperbande gehören. Ob die ungarischen oder die österreichischen Behörden für die weitere Aufklärung der Tragödie zuständig sind, ist noch unklar.
EU-weiter Verteilschlüssel für Flüchtlinge hat keine Chance
Angesichts der 71 Toten haben die Konservativen in der österreichischen Grossen Koalition ihre Law-and-Order-Rhetorik leicht gemildert. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) hatte bisher auf das Flüchtlingsdrama stets nur mit stärkeren Polizeikontrollen geantwortet, an den Grenzen, entlang der Autobahnen und in den Zügen. Nun sagt die konservative Politikerin das erste Mal etwas, was Hilfsorganisationen schon lange fordern: Dass Flüchtlinge legale Wege bräuchten, um in der EU um Asyl nachzusuchen. Im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl ist Österreich eines der Länder Europas, das von der Flüchtlingswelle am stärksten betroffen ist. Dieses Jahr werden bis zu 80 000 Asylanträge erwartet.
Die österreichische Regierung fordert zur Entlastung einen für alle EU-Staaten verbindlichen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge. Wenn sich etwa die baltischen Staaten, Polen oder die Slowakei nicht an die Quoten hielten, sollte die EU-Kommission im Gegenzug Förderungen zurückhalten. Allerdings schafft es Bundeskanzler Werner Faymann nicht einmal im eigenen Land, die unter den Bundesländern vereinbarten Aufnahmequoten für Flüchtlinge durchzusetzen.
Auch denken Österreichs Nachbarländer Tschechien und die Slowakei nicht im Traum daran, eine Quote der EU zu akzeptieren. Beide Regierungen wollen höchstens je 200 Flüchtlinge aufnehmen, und ausschliesslich Christen. Der sozialdemokratische slowakische Innenminister Robert Kalinak machte für die Flüchtlingswelle die westlichen EU-Staaten verantwortlich, weil sie Asylsuchende nicht sofort in ihre Heimatstaaten zurückschicken. Die Regierungen wissen bei ihrer harten Haltung die grosse Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. In den Leserforen im Internet wird der Tod der 71 Flüchtlinge in Österreich mit Genugtuung, oft mit Häme kommentiert. «Warum nicht gleich 250?» heisst es da, oder auch: Dem Fahrer gebühre der Nobelpreis. Für kommende Wochen sind sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei Demonstrationen gegen die «Immigrantenflut» angesetzt.
In Ungarn wird die Hetze gegen Flüchtlinge von der Regierung koordiniert. Kein Tag vergeht, in dem nicht ein Mitglied der Regierungspartei Fidesz vor einer Bedrohung der ungarischen Kultur und des Abendlands durch die Fremden aus dem Orient warnt. Am Dienstag soll das Budapester Parlament den nationalen Notstand beschliessen, womit die Regierung ermächtigt wäre, das Militär im Inland einzusetzen. Weil der vier Meter hohe Zaun entlang der serbischen Grenze längst nicht wie geplant bis morgen Montag fertig wird, schickt Regierungschef Viktor Orban nun eine Spezialeinheit der Polizei als Feldgendarmerie an die Grenze. Langfristig soll die Grenzbefestigung ähnlich ausgebaut werden, wie vor drei Jahrzehnten der Eiserne Vorhang: Mit zwei Zaunreihen und einer breiten Sperrzone dazwischen. Flüchtlinge, die aus Serbien kommen, sollen in dieser bis zu 60 Meter breiten Zone festgehalten, registriert und dann zurückgeschickt werden.
Humanitäre Organisationen warnen, dass die Ankündigung solcher Massnahmen den Flüchtlingsstrom nur beschleunigen und damit das Schleppergeschäft ankurbeln werde. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon forderte von der internationalen Gemeinschaft eine grössere Anstrengung, um jene Konflikte zu lösen, «die Menschen keine Wahl als die Flucht lassen». Am 30. September bittet er zu einem Sondergipfel in New York.