24-Stunden-Betreuung in der Krise Sie kommen aus der Slowakei, aus Rumänien oder Polen und pflegen alte Menschen in der Schweiz. Nun sitzen die einen in ihrem Heimatland fest, während anderen der Rückweg versperrt ist.
Veröffentlicht in: Tagesanzeiger, 2. Mai 2020
Manchmal gibt Anna Saghi ihrer Tochter Tipps fürs Kochen. Damit das Mädchen nicht immer nur Spaghetti mit Ketchup isst. Sondern Gemüse. Oder einen Braten. Ganz einfach ist das nicht. Die 17-jährige Tochter steht zu Hause in Humenne am Herd, einer Kleinstadt im Osten der Slowakei. Die Anweisungen der Mutter bekommt sie über Skype, aus einer Wohnung im 1300 Kilometer entfernten Aargau.
Hier arbeitet Saghi als 24-Stunden-Pflegerin für die Firma Home Instead Schweiz. Sie betreut einen 85-jährigen Mann, der noch recht rüstig ist, aber für Haushalt und Körperpflege dennoch immer jemanden braucht. Eigentlich sollte Saghi nach vier Wochen von einer Kollegin abgelöst werden. Aber das funktioniert in der Corona-Krise nicht. Öffentliche Verkehrsmittel überqueren keine Staatsgrenzen mehr, und viele Frauen haben kein eigenes Auto. Also blieb die Kollegin in der Slowakei, und Saghi sagte zu, mindestens zwei Wochen länger bei ihrem Klienten in der Schweiz zu bleiben.
Schlechte Bezahlung und mangelnde Absicherung
Zwischen 10’000 und 30’000 sogenannte Care-Migrantinnen arbeiten in der Schweiz, die meisten in der 24-Stunden-Betreuung. Ihre genaue Zahl ist genauso wenig bekannt wie die Anzahl der Schweizer Firmen, die ausländische Pflegekräfte beschäftigen oder vermitteln. Schon vor der Krise stand die Branche in der Kritik wegen der sehr niedrigen Bezahlung und mangelnder sozialer Absicherung der Pflegenden. Hinzu kommen schwarze Schafe unter den Anbietern, die unqualifiziertes Personal zu Dumpingpreisen veritteln.
Die Corona-Krise trifft nun auch seriöse Firmen, die sich um ihr Personal kümmern und halbwegs faire Löhne zahlen. Jene osteuropäischen Länder, aus denen viele Pflegerinnen kommen, haben ihre Grenzen dichtgemacht. Aus Bulgarien und Rumänien sind Ausreisen in den Westen praktisch unmöglich, aus Polen oder der Slowakei zumindest sehr schwierig.
«In der Tat sind wir jetzt in der Bredouille», sagt Silvain Kocher, Geschäftsführer der Firma Alterswohnhilfe und Präsident des Verbands «Zuhause leben»: «Die im Einsatz stehenden Mitarbeiterinnen können nicht heim, und ihre Ablösungen stecken im Heimatland fest.» Kocher lobt seine Mitarbeiterinnen, die im Moment Grosses leisten: «Sie bleiben loyal und harren in ihrer doch etwas aufgedrängten Situation aus.» Dann fügt er an: «Aber wie lange das noch gutgeht, ist ungewiss.»
Auf der anderen Seite ist die Loyalität vieler Firmen zu ihren Mitarbeiterinnen (Männer sind in dem Beruf selten) begrenzt. Wer zu Hause bleiben muss, bekommt kein Geld. Denn Temporärarbeiterinnen haben kein Anrecht auf eine Lohnfortzahlung. Auch das Risiko, dass der Arbeitsweg versperrt ist, müssen sie selbst tragen.
Die lange Reise ist zu gefährlich geworden
Zum Beispiel Jarka O.*, die vor dem Lockdown immer mit dem Zug in die Schweiz kam. Mit dem Nachtzug aus ihrer kleinen Gemeinde im Osten der Slowakei in die Hauptstadt Bratislava. Von dort 9 Stunden mit dem Railjet nach Zürich. Das war eine lange, aber «angenehme Reise», sagt sie. In der Corona-Krise ist die Fahrt so nicht mehr möglich. Mehrmals umsteigen, mehrmals Kontakt mit fremden Menschen – für Jarka O. «viel zu gefährlich».
Seit Anfang April sollte Jarka vier Wochen lang eine 93-jährige Schweizerin in der Nähe von Basel betreuen. Stattdessen sitzt sie in der slowakischen Provinz fest. Lohn erhält sie nicht, die Versicherung in der Schweiz muss sie aber weiterhin bezahlen. In den alten Beruf als Schneiderin kann sie nicht zurück. Die Textilfabriken wurden schon vor Jahren stillgelegt. Und wer in der Region noch einen Job hatte, der verliert ihn jetzt in der Corona-Krise. Auch Jarkas Mann wurde entlassen.
Viele Pflegerinnen bleiben deshalb nicht nur aus Solidarität mit Kolleginnen und Klienten in der Schweiz. Sie könnten es sich gar nicht leisten, unbezahlt zu Hause auf das Ende der Corona-Krise zu warten. Bleiben sie länger im Job, müssen jedoch ihre Aufenthaltsbewilligungen verlängert werden. Vor Corona war das ein mühevoller Prozess. Nun aber zeigen sich die Beamten offenbar überraschend flexibel. Paul Fritz, Chef und Gründer von Home Instead Schweiz, ist voll des Lobes für die Schweizer Behörden: So viel Unterstützung und so schnelle Reaktionszeiten habe er in dreissig Jahren im Beruf noch nie erfahren.
In den Heimatländern warten auf die Frauen ihre Partner und Familien, die durch die Corona-Krise ohnehin schon verunsichert sind. Viele der Pflegerinnen haben Kinder, die sich nun ohne ihre Hilfe durchs Leben schlagen müssen. Die Väter können sich mit der neuen Rolle als Hausmann schwer bis gar nicht anfreunden. Die Betreuung der Kinder durch die Grosseltern fällt aber genauso aus wie der Besuch von Freunden oder Bekannten.
Kontakt zur Tochter nur online
Anna Saghi ist alleinerziehende Mutter. Während sie im Aargau für ihren 85-jährigen Klienten wäscht und für ihn kocht, sitzt ihre Tochter in einer slowakischen Wohnung ohne Balkon oder Garten. Alleine. Einkaufen kann die 17-Jährige nur am Nachmittag, von 9 bis 12 Uhr sind die Läden für Senioren reserviert. Die Schulen sind geschlossen, die Kinder und Jugendlichen bekommen jedoch Aufgaben und Prüfungen online. Oft sitzt Saghi dann am Computer, kontrolliert die Arbeiten der Tochter. Das alles ist für sie «hundert Prozent schwieriger als vorher».
Die Pflegerin hat ein eigenes Auto, sie könnte zurück nach Humenne fahren. «Aber dann verdiene ich kein Geld. Und ich weiss auch nicht, wann ich wieder in die Schweiz darf.» Ausserdem stellt die Slowakei ihre aus dem Ausland zurückkehrenden Bürgerinnen unter Generalverdacht: Sie werden an der Grenze von Militär oder Polizei empfangen und müssen die ersten Tage der Quarantäne in einem Internat, einem ehemaligen Flüchtlingsheim oder einer Kaserne verbringen. In den schmuddeligen Quartieren mit Gemeinschaftstoiletten und -bädern ist die Infektionsgefahr jedoch besonders gross. Saghi weiss von zurückgekehrten Kolleginnen, die erst negativ und dann nach einigen Tagen in der Quarantänestation positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Auf diese Erfahrung will sie verzichten.
Länger in der Schweiz zu bleiben, wäre für Saghi kein grosses Problem. Sie mag das Land. Aber ihr fehlen die Familie und die Freunde. Sie ist ständig mit einem fremden alten Menschen zusammen. «Das macht psychisch müde. Nach einiger Zeit brauchen wir eine Phase der Erholung», sagt sie.
Ihre aus Österreich stammende Kollegin Cornelia Geschwandtner bestätigt das. Sie hat zwar eine Firma, die sich um sie kümmert. Aber wenn die Arbeit länger als vier Wochen gehe, sei die nervliche Belastung sehr gross: «Man hat ja kein Privatleben. Irgendwann zählt man die Tage bis Dienstende.» Auch Geschwandtner wurde gefragt, ob sie länger bleiben könne, und sagte zu. Ihre Ablöse sitzt in Berlin fest.
Betreuerinnen sollen an der Grenze abgeholt werden
Einige Betreuungsfirmen suchen nun nach kreativen Lösungen für den Schichtwechsel. «Wir organisieren alles für unsere Betreuerinnen. Es ist ein ziemlicher Aufwand, alle Bewilligungen zu bekommen», sagt Paul Fritz von Home Instead Schweiz: Aber es gehe doch. Mit einer Arbeitsbewilligung für die Schweiz könne man zum Beispiel durch Österreich reisen, auch mit dem Zug. Von Bregenz über die Grenze nach St. Margrethen geht es mit einem Taxi.
Silvain Kocher von der Alterswohnhilfe wollte Ende April mit einem Kleinbus durch Österreich bis an die slowakische Grenze fahren und dort seine Mitarbeiterinnen in Empfang nehmen. Diesen Plan hat er wieder aufgegeben: «Wir hoffen jetzt auf eine baldige Lockerung der Einreiseund Transitbeschränkungen.»
Die österreichische Regierung will in den nächsten Tagen 24-Stunden-Pflegerinnen aus Rumänien mit Sonderzügen an ihre Arbeitsplätze holen. Das Schweizer Staatssekretariat für Migration sucht eine Lösung auf europäischer Ebene, wie die Medienstelle mitteilt: Das Ziel sei, «die Durchreise von Arbeitskräften in andere Schengen-Staaten zu ermöglichen, wenn diese dort einen Arbeitsvertrag haben.»
Jarka O. und ihr Mann pflegen nun den Garten vor ihrem Haus in der Ostslowakei. Das hilft gegen die Langeweile. Aber die finanziellen Reserven des Paars reichen nur für wenige Wochen. Die Pflegerin hofft, dass sie bald wieder in die Schweiz darf, spätestens Mitte Mai. «Sonst weiss ich wirklich nicht, wie es mit uns weitergehen soll.»