Der russische Oppositionsführer Ilja Jaschin kritisierte den russischen Überfall auf die Ukraine und sass dafür 25 Monate im Gefängnis. Nun sieht er im Interview klare Anzeichen für den Verfall von Putins Regime.
Veröffentlicht in: Tagesanzeiger, 21. 1. 2025

Am 1. August 2024 fand auf dem Flughafen von Istanbul der grösste Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Kalten Kriegs statt. Die Regimes von Wladimir Putin und seinem belarussischen Verbündeten Alexander Lukaschenko lieferten 16 politische Häftlinge aus, unter ihnen den US-Journalisten Evan Gershkovich sowie die prominenten russischen Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Murza und Ilja Jaschin. Im Gegenzug bekam Putin 10 Agenten zurück, unter ihnen der «Tiergartenmörder» Wadim Krassikow. Er hatte 2019 in Berlin einen ehemaligen tschetschenischen Kommandanten erschossen.
Ilja Jaschin galt neben Alexei Nawalny als profiliertester Politiker der russischen Opposition. Nach Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hatte der damals 39-Jährige den Überfall verurteilt und später über das russische Massaker an ukrainischen Zivilisten in Butscha berichtet. Dafür wurde er zu achteinhalb Jahren Straflager verurteilt. Seine Befreiung kommentierte Jaschin mit gemischten Gefühlen: Er habe Russland nicht freiwillig verlassen und sehe sich weiterhin als russischen Politiker und Patriot. Jaschin lebt heute in Berlin und koordiniert die russische Oppositionsbewegung. Für den 1. März kündigt er eine Grossdemonstration in Berlin gegen das Regime Putin an.
Herr Jaschin, Sie waren über zwei Jahre lang in Russland eingesperrt. Wie sehr leiden Sie heute noch darunter?
Die Erinnerungen kommen immer wieder hoch. 25 Monate waren eine lange und schreckliche Zeit. Manchmal träume ich noch vom Gefängnis. Manchmal bekomme ich im wachen Zustand Angstattacken, wie ich sie in Gefangenschaft hatte.
War das Gefängnis schlimmer als in Ihren Vorstellungen?
Wir alle in der Oppositionsbewegung hatten die Bücher sowjetischer Dissidenten wie Alexander Solschenizyn oder Wladimir Bukowski über ihre Lagerhaft gelesen. Damals hielten wir das für Aufzeichnungen aus der Vergangenheit. Aber als wir selbst verhaftet wurden, erkannten wir: Es hat sich nichts verändert!
Russische Gefängnisse sind heute genauso wie zur Zeit der Sowjetunion?
Seit Solschenizyn in den 1960er-Jahren den Gulag beschrieb, hat sich das Land stark verändert. Aber nicht das Gefängnissystem. Die Atmosphäre, der Tagesablauf, das Verhalten der Wärter – alles ist heute genau so, wie es die sowjetischen Dissidenten beschrieben.
Gibt es dafür eine Erklärung?
Der in Haft umgebrachte Alexei Nawalny hatte das erklärt: Die russischen Reformer der 1990er-Jahre befassten sich intensiv mit der Wirtschaft und anderen Fragen. Aber sie kamen nie auf die Idee, dass auch das Gefängnissystem Reformen hin zu einem menschlicheren Umgang mit den Gefangenen braucht. Und natürlich gab es auch unter Putin keine Reformen.
Wurde gegen Sie im Gefängnis Gewalt ausgeübt?
Sie brauchten keine physische Gewalt auszuüben. Es reichte schon die psychische Gewalt, wenn man mich in die Strafzelle steckte: die Enge des Raums, der Schmutz, der Gestank, die Kälte. Das waren praktisch folterartige Haftbedingungen.
Konnten Sie mit anderen politischen Gefangenen kommunizieren?
In meiner Zelle waren keine anderen politischen Gefangenen. Da sassen Diebe, Schläger, Erpresser. Manchmal auch Menschen, die gerade vom Schlachtfeld zurückgekehrt waren.
Sie wurden von diesen Menschen akzeptiert?
Ich habe nie Ablehnung oder Aggression gespürt. Im Gefängnis ist es wichtig, gleich zu Beginn der Haft sich zu erklären: Weshalb bist du da? Weswegen haben sie dich verurteilt? Für eine politische Verurteilung muss man sich nicht schämen. Sie flösst den Mitgefangenen eher Respekt ein. Denn du sitzt, weil du zu deiner Überzeugung gestanden bist. Manchmal wurden Mitgefangene aggressiv, weil sie von der Gefängnisleitung oder den Wächtern provoziert wurden. Aber es gelang mir stets, die Stimmung zu beruhigen.
Hat Sie das Gefängnis verändert?
Ich bin ruhiger geworden. Und ich habe meine Kommunikationsfähigkeiten verbessert.
Wie das?
Im Gefängnis bist du ständig in einer Zelle mit nicht besonders netten Menschen. Die ganz andere Ansichten und Werte haben. Ich wurde eingesperrt, weil ich offen gegen den Krieg in der Ukraine war. Dann steckte man zu mir in die Zelle einen Mann, der gerade von der Front kam. Was sollte ich tun? Wir mussten miteinander auskommen, wir teilten ja Tisch und Toilette. Diese Fähigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden, stellte sich für einen Politiker wie mich allerdings als sehr nützlich heraus.
«Wer gegen Wladimir Putin aufsteht, ist immer in Gefahr, ermordet zu werden.»
Sie kamen frei, obwohl Sie nicht gehen wollten. Bedauern Sie das immer noch?
Ich habe nie bedauert, dass ich freigelassen wurde. Aber mich empört, dass ich gezwungen wurde, meine Heimat zu verlassen. Ich wollte niemals emigrieren! Ausserdem geht es mir um das Schicksal der anderen politischen Gefangenen. Ich denke an die vielen Menschen in russischen Gefängnissen, die unschuldig verurteilt wurden, gefoltert und gequält werden und die möglicherweise in der Haft sterben. Ich mache mir grosse Sorgen um sie.
Sie hätten wie Nawalny in Haft sterben können.
Wer sich in Opposition zu Putin begibt, muss mit diesem Risiko leben. Wer gegen Wladimir Putin aufsteht, ist immer in Gefahr, ermordet zu werden. Ob in Russland in Freiheit, in einem russischen Gefängnis oder im Westen. Ich wurde gegen Wadim Krassikow ausgetauscht, der einen Gegner Putins erschossen hatte. Und zwar in Berlin – in jener Stadt, in der ich jetzt lebe.
Dennoch verzichten Sie in Berlin auf persönlichen Schutz?
Ich habe keine Leibwächter, stehe aber mit der Berliner Polizei in Kontakt. Sie hat mir Sicherheitsmassnahmen vorgeschlagen, die ich einhalte. Ich bin aber in Russland ohne Sicherheitspersonal herumgelaufen und möchte das auch in Berlin so halten. Sollte die Polizei meine Gefährdung jedoch als erhöht einschätzen, würde ich Schutz bekommen.
Schätzen Sie das System Putin als weiterhin stabil ein?
Von aussen betrachtet, machen solche diktatorischen Systeme immer einen stabilen Eindruck. Aber wir wissen nie, wie verfault sie schon im Inneren sind. Ein gutes Beispiel ist das Sowjetregime: Das wirkte bis zuletzt sehr stark, mächtig und langlebig. Dann fiel es innerhalb von drei Tagen auseinander.
Putins System könnte es ähnlich gehen?
2023 konnten wir beobachten, welchen Stress der Aufstand des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin für Putins System bedeutete. In einem halben Tag eroberte Prigoschin ein regionales Zentrum und begab sich auf den Marsch nach Moskau. Niemand hat versucht, den Kreml zu verteidigen! Prigoschins Rebellion wurde also von Prigoschin selbst aufgehalten, nicht von Putin. Darin erkenne ich klare Anzeichen für den Verfall des Putin-Regimes. Die grosse Frage ist, wie lange der Verfall dauern wird.
Putin könnte gestürzt werden?
Möglicherweise gibts eine Palastrevolte, vielleicht auch einen Aufstand in der Provinz. Das sind nur Spekulationen. Was ich sagen kann: Putin ist sicherlich ein verängstigter und unglücklicher Mensch. Er hat sich selbst in eine Situation manövriert, in der sein Leben und seine Macht permanent bedroht sind. Dabei sagte Putin noch kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 in einem Dokumentarfilm: Er hoffe, dass er eines Tages ins Privatleben zurückkehren und sich wie jeder Bürger einfach ein Bier kaufen könne.
Das wird wohl nicht passieren?
Sicher nicht. Wenn man Putins Zukunft mit jener von westlichen Staats- und Regierungschefs vergleicht, könnte man fast Mitleid mit ihm haben. Er kann nicht wie Barack Obama an den Strand zum Kitesurfen fahren, nicht wie Angela Merkel im nächsten Laden einkaufen gehen. Und nicht wie Bill Clinton eine Vorlesung an der Universität halten. Putin wird für den Rest seines Lebens in Geiselhaft seiner Macht bleiben. Er wird in seinem Bunker sitzen und um sein Leben zittern.

Wird er einem Friedensvertrag mit der Ukraine zustimmen?
Es gibt eine Chance, den Krieg in diesem Jahr zu beenden. Aber in welcher Form und mit welchem Ergebnis, das lässt sich überhaupt nicht vorhersagen. Der neue US-Präsident Donald Trump zeigt einen starken Wunsch, hier etwas zu bewegen. Aber ich verstehe nicht, wie seine Formel für den Frieden aussieht. Zum heutigen Zeitpunkt sehe ich keinen gemeinsamen Nenner zwischen der Ukraine und Russland. Das werden zähe und lange Verhandlungen.
Die Ukraine lehnt auch den Kontakt zur russischen Opposition ab?
Ja, die Haltung der offiziellen Ukraine zur russischen Opposition ist sehr kritisch. Wir müssen das akzeptieren. Wir sind jedoch offen für einen Dialog, falls die Ukrainer das wünschen.
Könnte Europa mehr tun, um den Konflikt zu beenden?
Europa sollte viel mehr Solidarität mit der Ukraine zeigen. Und härter gegenüber Putin auftreten. Im Moment passiert aber eher das Gegenteil. Putin betrachtet Europa als ziemlich schwachen Gegenspieler in dieser globalen Konfrontation. Und jetzt wartet er darauf, dass in den EU-Staaten kremlfreundliche rechtsextreme Politiker an die Macht kommen. Leider geben ihm die Ereignisse der letzten Zeit dabei recht.
Putins schärfster Kritiker

Ilja Jaschin wurde am 29. Juni 1983 in Moskau geboren und schloss sich mit 17 Jahren der Oppositionspartei «Jabloko» an. Später machte er sich einen Namen gegen die autoritäre Politik Wladimir Putins: Er veröffentlichte Dokumente über Korruption in Putins Partei und ihre Verbindungen zur Organisierten Kriminalität. Immer wieder wurde Jaschin verhaftet und zu kürzeren Haftstrafen verurteilt. Die Emigration lehnte Jaschin jedoch stets ab: Er sei russischer Politiker und werde in seiner Heimat bleiben. Nach seiner Kritik an Putins Überfall auf die Ukraine wurde Jaschin zu achteinhalb Jahren Straflager verurteilt. Er kam im August 2024 im Zuge eines Gefangenenaustausches frei und lebt heute in Berlin. Das Interview fand am Rande der Podiumsdiskussion «Europäische Zusammenhänge» in Wien statt.