Aktuelle Diskussionen über den Ausbau der Schiene im Waldviertel oder die Abstimmung über eine S-Bahn in Salzburg zeigen, wie sehr Österreichs Bahn unter Fehlentscheidungen leidet, die vor Jahrzehnten getroffen wurden.
Veröffentlicht in: Datum, Dezember 2024
Es ist still geworden am Bahnhof der Waldviertler Stadtgemeinde Waidhofen an der Thaya. Der letzte reguläre Personenzug fuhr hier vor fast 15 Jahren, der letzte Sonderzug von Eisenbahnfreunden vor drei Jahren. Jetzt rosten die Schienen vor sich hin, das Unkraut wuchert fröhlich.
Dass eines der wenigen städtischen Zentren im strukturschwachen Waldviertel ohne Bahnanschluss bleibt, hat einerseits mit Niederösterreichs Landesregierung zu tun, die bis heute ganz auf den Straßenbau setzt. Andererseits ist daran eine gravierende Fehlplanung zu Beginn des Eisenbahnzeitalters schuld, unter der das Waldviertel bis heute leidet. Das Beispiel der Franz-Josefs-Bahn zeigt, wie bereits damals an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigeplant wurde, weil sich Einzelinteressen durchsetzten. Ähnlich wie das Waldviertel leiden auch andere Regionen an groben Fehlern der Vergangenheit.
Als im Juni 1870 der erste Zug von Wien in Richtung Gmünd fuhr, bekam das Waldviertel zwar eine Schienenverbindung mit der Residenzstadt. Aber um die wenigen Städte der Region machte die Strecke einen großen Bogen: Horn, Zwettl und Waidhofen an der Thaya blieben vorerst ohne Bahnhof.
Grund dafür war das Lobbying einer damals wirtschaftlich starken und einflussreichen Gruppe: Die Fuhrwerker fürchteten (ganz zu Recht) die Konkurrenz durch das neue Verkehrsmittel. Wenn sie es schon nicht verhindern konnten, so sorgten sie doch dafür, dass sie zumindest mit der Fahrt zum kilometerweit entfernten Bahnhof noch Geschäft machten.
Die Waldviertler Städte wurden zwar noch im 19. Jahrhundert durch Nebenbahnen mit der Hauptstrecke verbunden, aber die meisten wurden spätestens in den 2000er-Jahren wieder eingestellt. Mit wenig überraschenden Konsequenzen: Laut der Statistik des Verkehrsclubs Österreich VCÖ sind Waidhofen an der Thaya, Zwettl und Horn jene Bezirke mit der größten Autodichte in Österreich. Auf 1.000 Einwohner kommen hier rund 750 PKW. In ganz Österreich sind es etwa 570 Autos, in Wien rund 470. Von den Berufspendlern in Horn nehmen nur zehn Prozent den Zug.
Angst vor dem «Gesindel» aus der Stadt
Das Waldviertel ist nicht die einzige Region, in der Lobbying eine sinnvolle Trassenführung verhinderte. Auch im oberösterreichischen Mühlviertel liegen die Bahnhöfe Freistadt oder Rohrbach weit ab der Zentren. Gegen die Bahn wehrten sich damals nicht nur die Fuhrwerker. Die Kirche, lokale Politiker und Großgrundbesitzer fürchteten, dass mit dem Zug das ›Gesindel‹ aus Linz aufs Land strömen würde.
Heute müssen viele Mühlviertler nach Linz pendeln und wären froh, wenn sie im Zug sitzen könnten, statt im täglichen Stau an der Stadteinfahrt. Doch die weit von den Siedlungen entfernt gelegenen Bahnhöfe machen die Bahn für Pendler unattraktiv. Und durch die Zersiedelung ist es unmöglich geworden, die Bahnstrecken zu verlegen – näher an die Gemeindezentren.
Die Österreichischen Bundesbahnen haben derzeit viele Probleme: Die Züge sind entweder überfüllt oder verspätet, meistens beides. Es gibt Beschwerden über zu wenige Verbindungen, vor allem abseits der Hauptstrecken. Dort sind die Züge auf veralteten Strecken oft besonders langsam unterwegs. Selbst im Speckgürtel rund um Wien gibt es Strecken, auf denen Schranken, Weichen und Signal von einem Fahrdienstleiter oder einer Fahrdienstleiterin mit Hebeln und Kurbeln gestellt werden.
Die Ursache vieler Probleme liegt in einer autozentrierten Politik, welche für die Bahn seit den 1950er-Jahren gerade mal das Geld zum Überleben bereitstellte. Das änderte sich erst mit der Debatte um den Klimawandel. Etliche Probleme der Bahn gehen aber noch weiter zurück, bis zu ihren Anfängen im 19. Jahrhundert. Denn die Auswirkungen von Fehlplanungen und falschen Einsparungen zeigen sich bei Verkehrsprojekten oft erst in der nächsten oder übernächsten Generation. Dann ist es für Korrekturen meist zu spät.
Zurück zu den Anfängen der Eisenbahn: Der geniale Ingenieur Karl Ghega baute in den 1850er-Jahren über den Semmering die erste Gebirgsbahn Europas und er führte sie trotz hoher Kosten gleich doppelspurig aus. So konnten die Züge auch auf der anspruchsvollen Bergstrecke aneinander vorbeifahren. In den Jahren danach wurden weitere Schienenverbindungen über die Alpen gebaut, über den Pyhrn, die Tauern, den Arlberg, die Karawanken. Alle sehr aufwendig und mit spektakulären Streckenverläufen, aber mit nur einem Gleis.
Kreuzen konnten die Züge nur in dafür vorgesehenen Bahnhöfen. Hatte ein Zug Verspätung, musste der Gegenzug eben warten – und bekam ebenfalls Verspätung. Auf einer Hauptstrecke konnte das schnell zu einem größeren Problem werden – und wird es heute noch. Die Tauernbahn zwischen Salzburg und Villach wurde mittlerweile fast durchgängig zweigleisig ausgebaut. Auf der Pyhrnbahn sind Ausbauarbeiten derzeit in Gang.
Nicht einmal geplant ist hingegen der Ausbau der einzigen Schienenverbindung nach Vorarlberg: Über die großteils eingleisige Arlbergstrecke schleppen sich die schnittigen Railjets immer noch mit maximal 60 km/h. Ist der Zug aus Wien verspätet, muss der Gegenzug aus Bregenz oder Zürich in einem Bahnhof irgendwo zwischen Bludenz und Ötztal warten. Die Verspätung setzt sich dann bis Wien fort, wird meistens auf der Strecke über Salzburg und Linz immer noch ein wenig größer. Mit seiner Infrastruktur aus dem 19. Jahrhundert bringt der Arlberg damit im 21. Jahrhundert den Taktfahrplan auf der gesamten Westbahn durcheinander. Fast täglich. Eine Verbesserung ist nicht absehbar.
Apropos Doppelgleisigkeit: In den 1950er- und 1960er-Jahren schien die Bahn ein Auslaufmodell und Hauptstrecken mit zwei nebeneinanderliegenden Gleisen ein zu großer Luxus. Deshalb wurde auf der Franz-Josefs-Bahn auf 120 Kilometern zwischen Absdorf-Hippersdorf und der Staatsgrenze bei Gmünd das zweite Gleis entfernt. Heute würde man es wieder dringend brauchen, um bei den Pendlerzügen Verspätungen durch Kreuzungsaufenthalte zu vermeiden und zumindest einen Stundentakt zwischen Wien und Gmünd einzuführen. Bisher blieb es freilich bei Ankündigungen, gebaut wird noch nicht.
Ebenfalls entfernt wurde vor Jahrzehnten das zweite Gleis auf der sogenannten ›Marchegger Ostbahn‹ von Wien über Marchegg nach Bratislava. Hier konnte der Fehler der Vergangenheit mittlerweile mit einer 100-Millionen-Euro-Förderung der EU behoben werden. Die ÖBB haben das zweite Gleis wieder errichtet, die Strecke elektrifiziert und für eine Geschwindigkeit bis zu 200 km/h ausgebaut. Die Modernisierung soll 2025 abgeschlossen sein.
Die Macht der Kohlebarone
Womit wir beim Thema Elektrifizierung wären. In Österreich sind derzeit 76 Prozent aller Bahnstrecken unter Fahrdraht. Die Schweiz hatte diesen Anteil an Elektrifizierung bereits 1939 erreicht. Dort fahren die Züge heute ausschließlich mit Strom.
Dabei begann die aus dem Habsburgerreich hervorgegangene Republik ebenso engagiert mit der Elektrifizierung wie das Nachbarland westlich des Rheins. Mitte der 1920er-Jahre waren fast alle Strecken in Vorarlberg und Tirol sowie jene durch das Salzkammergut elektrifiziert. Aber dann war Schluss. Die damalige Leitung der Bundesbahn fand, dass der elektrische Betrieb zu teuer und ohne Zukunft sei. Dass im Hintergrund die Kohleindustrie stark lobbyierte, wurde offensichtlich, als die BBÖ (so die damalige Abkürzung) den Bau neuer Dampflokomotiven in Auftrag gab. Die galten zu ihrer Zeit als die stärksten Europas, waren aber für das kleine Österreich überdimensioniert und wurden nach nicht einmal 30 Dienstjahren verschrottet. Die Fortsetzung der Elektrifizierung kam erst Ende der 1950er-Jahre wieder in Schwung. Auf vielen Regionalbahnen fahren aber heute noch Dieselzüge.
Regionalbahnen galten seit den 1950er-Jahren ohnehin als todgeweiht. Und die Politik half eifrig mit. Verkehrspolitisch besonders verheerend waren die Entscheidungen des späteren ÖVP-Bundeskanzlers Josef Klaus als Landeshauptmann von Salzburg. 1957 ließ Klaus die im Besitz der Länder Salzburg und Oberösterreich stehende Schmalspurbahn von Salzburg über St. Gilgen nach Bad Ischl einstellen. Mit ihrer Strecke entlang des Mondsees und des Wolfgangsees war die ›Ischler Bahn‹ eine Touristenattraktion und zählte zu den schönsten Bahnlinien Europas. Mitte der 1950er-Jahre sollte sie sogar elektrifiziert werden, mit Mitteln aus dem amerikanischen Marshallplan.
Die Modernisierung wurde in letzter Minute abgeblasen. Angeblich soll Landeshauptmann Klaus das amerikanische Geld lieber in die Salzburger Festspiele investiert haben. Heute leidet die Seenregion unter ständig verstopften Straßen. Busse fahren zwar im Halbstundentakt, aber dem Stau können sie nicht ausweichen. Forderungen nach Wiedererrichtung der Bahn kommen immer wieder, konkrete Pläne gibt es nicht.
Salzburger Verkehrschaos
Schon vier Jahre vor dem Ende der Ischler Bahn wurde unter Josef Klaus die ›Rote Elektrische‹ eingestellt. Das war eine Überland-Straßenbahn, die vom Salzburger Hauptbahnhof quer durch die Stadt bis zur deutschen Grenze bei St. Leonhard fuhr. Dort gab es Anschluss an eine Straßenbahn nach Berchtesgaden. Die roten Züge waren sehr gut frequentiert, aber sie waren auf ihrem Weg entlang der Salzach den Autos im Weg. Also musste die Elektrische weichen.
Weil die Stadt Salzburg heute im Autoverkehr erstickt, sollte die Rote Elektrische auferstehen, freilich nicht auf der Straße, sondern in einem Tunnel unter dem Stadtzentrum. Ironischerweise war es jetzt die ÖVP-Landesregierung, welche den sogenannten ›S-Link‹ vorantrieb, weil sie eher die Interessen des Umlands vertrat. In der Stadt Salzburg selbst kampagnisierte hingegen der neue SPÖ-Bürgermeister massiv gegen das Projekt – mit Erfolg: Bei einer Volksabstimmung am 10. November dieses Jahres sagten knapp 53 Prozent der Befragten Nein. Damit sind nicht nur 20 Millionen Euro für Sondierungsarbeiten vergeudet worden, es schwindet auch die Hoffnung auf eine Lösung des Salzburger Verkehrschaos.
Nicht alle Fehlentscheidungen liegen so weit zurück. Als Ende der 1990er-Jahre nach jahrzehntelangen Diskussionen beschlossen wurde, in Wien anstelle des Süd- und des Ostbahnhofs einen Hauptbahnhof zu bauen, war im Untergeschoß ein eigener Bahnhof als Nahverkehrsdrehscheibe angedacht. Das schien dann aber doch zu teuer und zu groß, so dass es bei der schon bestehenden S-Bahn-Haltestelle blieb. Aber schon heute, zehn Jahre nach seiner Eröffnung, hat der Bahnhof mit seinen fünf Bahnsteigen die Kapazitätsgrenze erreicht, an starken Reisetagen können Züge nur sehr knapp oder zu spät bereitgestellt werden und fahren dann schon mit teilweise starker Verspätung ab. Für den Bau eines eigenen Nahverkehrsbahnhofs ist es jetzt jedoch zu spät.
Gerade in Wien zeichnet sich die nächste Fehlentscheidung ab, die möglicherweise noch Generationen beschäftigen wird. Seit 2023 bauen die ÖBB an der Stammstrecke der S-Bahn zwischen Floridsdorf und Meidling. Das ›Upgrade‹, wie es in der Bahnwerbung heißt, umfasst die Digitalisierung der Signale, die Verlängerung von Bahnsteigen und den Neubau von Brücken und Viadukten. Freilich: Viel mehr Züge als jetzt werden auch dann nicht fahren können. Bahnexperten fordern den Bau eines dritten Gleises zumindest zwischen Wien-Mitte und Rennweg, damit dort die Züge zum Flughafen fahren können, ohne die S-Bahnzüge der Stammstrecke zu behindern. Doch dieser Ausbau kommt nicht. Deshalb, so urteilt die Fachzeitschrift Eisenbahn, werde die Wiener S-Bahn auch nach dem Upgrade ein Problemfall bleiben.
Immerhin wird in Wien gebaut, während die Menschen in den Städten des Waldviertels weiterhin vergeblich auf den Zug warten. In Horn reichen die Pläne für eine Verlegung der vor über 150 Jahren ›falsch‹ gebauten Franz-Josefs-Bahn bis in die Anfänge der 1990er-Jahre zurück. Immer wieder wurden Machbarkeitsstudien präsentiert und Bauarbeiten angekündigt. Eine Korrektur des Fehlers von 1870 mit einer Verlegung der Hauptstrecke ist vom Tisch. Stattdessen sollen über die Regionalbahn direkte Züge nach Wien fahren. Die Inbetriebnahme ist unlängst von 2029 auf 2031 verschoben worden.
Wahrscheinlich für immer von der Bahn abgeschnitten bleibt Waidhofen an der Thaya. Einst fuhren die Züge von hier weiter bis an die tschechische Grenze. Nach dem Fall der Mauer sollte sogar die Schienenverbindung mit dem Nachbarstaat wiederhergestellt werden. Das hätte vor allem für den Holztransport große Bedeutung gehabt. Doch Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll ließ entgegen seinen Versprechungen die Bahn doch stilllegen und auf der Trasse einen Radweg errichten. Das Holz wird heute mit LKWs transportiert, die in hohem Tempo durch die engen Ortsdurchfahrten donnern.