Der Fall eines belarussischen Dissidenten zeigt, wie zögernd die Schweiz Menschen Schutz gewährt, die politisch verfolgt werden.
Veröffentlicht in: Tagesanzeiger, 11. November 2024
Er hatte keine Ahnung, wer da vor seiner Türe stand. Uladzimir Staschkewitsch hatte kurz zuvor ein Schmuckstück online zum Kauf angeboten. Nun erwartete er in seiner Wohnung am Stadtrand der belarussischen Hauptstadt Minsk eine Käuferin. Die junge Frau kam tatsächlich. Aber sie wollte keinen Schmuck kaufen, sie tauchte mit vier männlichen Kollegen auf. Es war eine Falle. Alle gehörten zum Geheimdienst KGB. Der belarussische Geheimdienst heisst tatsächlich noch so, wie sein berüchtigter sowjetischer Vorgänger.
An den Protesten gegen die Fälschung der Präsidentenwahlen im Jahr 2020 beteiligte sich der heute 36-jährige Staschkewitsch sehr aktiv. Nach deren brutaler Niederschlagung in Minsk im Untergrund. Doch mit dieser Falle entdeckten ihn die Schergen von Diktator Alexander Lukaschenko. Sie beschlagnahmten Computer, Handy, Reisepass und nahmen Staschkewitsch mit in ihr Hauptquartier.
So schildert Staschkewitsch die Ereignisse vom Januar 2024. Heute lebt der belarussische Regimekritiker in einem Asylzentrum im Tessin. Über Nacht muss er dortbleiben, tagsüber darf er es verlassen, darf auch nach Zürich reisen, wo das Gespräch dieser Zeitung mit ihm stattfindet. Über seinen Asylantrag soll demnächst entschieden werden.
Vom Geheimdienst ständig überwacht
Lange musste Staschkewitsch warten, bis ihm die Schweiz die Einreise aus humanitären Gründen erlaubte. Dabei scheint es in seinem Fall völlig klar, dass ihm in seiner Heimat eine Gefängnisstrafe, möglicherweise Folter und Tod drohen.
Nach der Verhaftung im Januar 2024 habe ihn der KGB bis in die späte Nacht hinein verhört und ihm zehn Jahre Haft wegen Hochverrats angedroht, erzählt Staschkewitsch: «Ich habe eine Autoimmunkrankheit und war LGBTQ-Aktivist: Ich hätte das Gefängnis kaum überlebt.» Also habe er unterschrieben, was ihm die Geheimdienstler vorlegten: ein Geständnis sowie eine Verpflichtung, mit niemandem über seine Begegnung mit dem Geheimdienst zu sprechen. Daran hielt er sich, denn der KGB habe ihn von da an ständig überwacht: «Ich konnte niemandem trauen.»
In der sicheren Schweiz angekommen, zeigt Staschkewitsch dieser Zeitung seine Konversation mit einem KGB-Agenten auf der Plattform Telegram. Der Mann, der sich «Anton» nennt, erkundigt sich fast täglich nach dem Befinden von Staschkewitsch, schreibt sehr persönliche Nachrichten mit Fotos von seinem Hund und seinem Motorrad. Aber dazwischen macht der KGBler immer wieder Druck, fordert Staschkewitsch auf, Informationen zu bringen, droht mit Gefängnis: «Du musst das hungrige Tier füttern, sonst verschlingt es dich.»
Staschkewitsch ist gross, mit kurzen Haaren und hellem Dreitagebart. Er spricht gutes Englisch, ein wenig Deutsch und hat ein sanftes Lächeln. Vor 13 Jahren begann er als Aktivist in der belarussischen LGBTQ-Bewegung, half bei der Organisation der jährlichen Gay-Pride in Minsk – bis diese 2013 von den Behörden endgültig verboten wurde. 2015 organisierte er gemeinsam mit dem Schweizer Künstler Daniel Eisenhut eine Ausstellung in Erinnerung an die belarussischen LGBTQ-Opfer des Holocaust. Heute ist ein solches Engagement in Belarus gesetzlich gleichgesetzt mit Pornografie oder Pädophilie und wird mit bis zu 13 Jahren Gefängnis bestraft.
Im Wahlkampf 2020 trat Staschkewitsch bei einer Medienkonferenz an der Seite der oppositionellen Kandidatinnen Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa auf. Damals trainierte er für die Bürgerbewegung Honest People Wahlbeobachterinnen und -beobachter. Nach den Wahlen kontaktierte er Mitglieder der Wahlkommissionen, die bereit waren, über die Methoden der Wahlfälschung auszusagen. Ihre Berichte veröffentlichte er.
Weil Lukaschenko trotz erdrückender Beweise für die Fälschung den Sieg für sich reklamierte, gingen in den folgenden Monaten Hunderttausende gegen ihn auf die Strasse. «Wir waren überzeugt, dass er sich dem Druck beugen würde», erinnert sich Staschkewitsch heute: «Das war zu optimistisch.»
Über 3.000 politische Gefangene in Belarus
Lukaschenko liess den Protest durch seine Polizei niederknüppeln, Tausende Menschen wurden verhaftet, unter ihnen auch die Schweizerin Natallia Hersche. Internationale Menschenrechtsorganisationen sprechen heute von über 1300 politischen Gefangenen in Belarus. Die Symbolfigur des Widerstands wurde zu elf Jahren verurteilt: Seither fehlt von Maria Kolesnikowa jede Spur. Sie soll im Gefängnis schwer erkrankt sein. Es ist nicht klar, ob sie noch lebt.
Aus dem Führungskreis von Honest People wurden zwei Personen zu langen Haftstrafen verurteilt, die anderen gingen ins Exil. In einem Videogespräch bestätigt die in Polen lebende Leiterin der Organisation, Lena Schiwoglod, die Arbeit von Staschkewitsch als Mediensprecher im Wahljahr: «Uladzimir war ein Teil unserer grossen Bewegung.»
Staschkewitsch wusste, dass er vom Regime gesucht wurde. So wechselte er in Minsk seine Wohnung und die SIM-Karte seines Telefons. Ausser Haus ging er nur noch mit einer medizinischen Maske vor dem Gesicht und einer Baseballkappe, um nicht durch eine der zahlreichen Überwachungskameras identifiziert zu werden.
Als die Lage immer aussichtsloser wurde, suchte er einen Weg ins sichere Ausland. Schon länger war er in Kontakt mit der schweizerisch-deutschen Menschenrechtsorganisation Libereco. Mit deren Hilfe stellte er im Juli 2024 beim Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) einen Antrag auf ein humanitäres Visum und fügte eine umfassende Dokumentation bei: 43 Seiten mit Beweisen für sein Engagement in der LGBTQ-Bewegung und der Opposition gegen Lukaschenko sowie Bestätigungen dieses Engagements von Bürgerrechtsbewegungen wie Honest People und dem Büro der im Exil lebenden Swetlana Tichanowskaja.
Seine Verhaftung und die Überwachung durch den KGB wollte Staschkewitsch in seinem Visumantrag nicht offenlegen. Der Geheimdienst hatte ihm im Falle von Verrat ja mit neuerlicher Verhaftung gedroht. Dennoch «rechnete ich fest damit, das Visum für die Schweiz zu bekommen», sagt Staschkewitsch.
Der Regimekritiker fuhr extra nach Moskau, um dort beim Schweizer Konsularzentrum den Antrag zu stellen. Drei Tage später kam die Antwort: abgelehnt. Es liege keine offenkundige Gefährdung vor, schrieb ihm die Botschaft: Die von Staschkewitsch behauptete Bedrohung stelle «keine besondere Notlage dar, die ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich macht».
Schweiz stellte nur sechs humanitäre Visa aus
Die Enttäuschung war nicht nur für Staschkewitsch gross. Libereco-Präsident Lars Bünger kritisiert, dass seit 2020 nur ein paar Dutzend Menschen aus Belarus in der Schweiz Schutz vor politischer Verfolgung fanden: «Polen und Litauen haben seit 2020 mehr als 300’000 Schutzsuchende aus Belarus aufgenommen. Die Schweiz hingegen lässt die politisch Verfolgten aus Belarus bisher weitgehend im Stich.» Das widerspreche auch der von Bundesrat Beat Jans angekündigten Maxime, dass die Schweiz Menschen Schutz gewähre, «die an Leib und Leben bedroht sind».
Das SEM äussert sich nicht zu Einzelfällen. Ganz allgemein antwortet die Medienstelle, dass von 2019 bis 2023 sechs humanitäre Visa für belarussische Staatsangehörige ausgestellt worden seien. Im ersten Halbjahr 2024 sei ein Antrag angenommen und einer abgelehnt worden. Grundsätzlich könne jedoch gegen einen abgelehnten Antrag Einsprache erhoben werden.
Genau das tat Staschkewitsch. Mithilfe von Libereco erhob er Einspruch gegen die Ablehnung seines Visums. Dann musste er zweieinhalb Monate auf die Antwort des SEM warten. Zweieinhalb Monate, in denen er ständig fürchtete, dass der Staatsapparat ihn erneut verhaften und in eine Strafkolonie bringen würde.
Schliesslich kam im Oktober doch die erlösende Nachricht: Staschkewitsch erhielt ein humanitäres Visum für die Schweiz und konnte über Moskau und Belgrad ausreisen. Hier hat er nun einen Asylantrag gestellt.
Der belarussische Geheimdienst gab Staschkewitsch seinen Reisepass zurück und Kontaktmann «Anton» schickte ihm über Telegram noch gute Tipps: Er solle in der Schweiz doch gleich eine Krypto-Wallet anlegen. Der KGB habe ihn als Spitzel ins Ausland schicken wollen, erzählt Staschkewitsch: Er solle Informationen über Oppositionsgruppen besorgen. Zum Schein habe er zugestimmt, sonst hätte man ihn niemals ausreisen lassen: «Aber dass sie wirklich glaubten, ich würde meine Freunde und meine Ideale verraten – das ist absurd.»
Am 26. Januar 2025 will sich Lukaschenko abermals zum Präsidenten wählen lassen. Die «ehrlichen Menschen» werden nicht zu Protesten aufrufen, denn «in Belarus herrscht zu viel Angst», sagt Elena Schiwoglod. Auch Uladzimir Staschkewitsch glaubt nicht an Widerstand im Land. Lukaschenkos Repressionsmaschinerie laufe auf Hochtouren, sagt er: «Die Folgen jeglicher Art von Protest sind so gravierend, dass die Menschen aus Angst überhaupt nicht mehr über politische Nachrichten sprechen wollen.»