Laut der Recherchegruppe erfassen junge Russinnen und Russen vom Büro aus zivile Ziele für Raketenangriffe auf die Ukraine. Christo Grozev sagt, wie die Truppe auf ihre Enttarnung reagiert.
Veröffentlicht in: Tagesanzeiger, 25. Oktober 2022
Die Flugbahnen der russischen Raketen, die in der Ukraine Wohnhäuser, Schulen oder Spitäler dem Erdboden gleichmachen, werden von IT-Nerds in Moskau und St. Petersburg programmiert. Das hat die internationale Recherchegruppe «Bellingcat» herausgefunden. Bei den Programmierern handelt es sich nach Angaben der Gruppe um etwa 30 junge Männer und Frauen. Manche von ihnen sollen aus der Gaming-Szene kommen, andere sollen bereits für das russische Militär im Syrien-Krieg tätig gewesen sein. Laut Bellingcat war auch der Kommandant der Gruppe persönlich in Syrien im Einsatz, als die Russen dort die Städte bombardierten. Der jüngste Raketenprogrammierer in der Gruppe ist erst 24 Jahre alt.
Die jungen Russinnen und Russen haben Raketen vom Typ Kalibr, Iskander oder KH-101 programmiert, mit denen in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder zivile Ziele in der Ukraine beschossen wurden, so Bellingcat. In Kiew, Dnipro und Lwiw beispielsweise wurden am 10. Oktober Wohnhäuser und Spielplätze durch russische Raketen getroffen. 20 Zivilisten starben. Am 14. Juli töteten drei Kalibr-Raketen im Zentrum der Stadt Winnizja 28 Menschen, darunter drei Kinder.
Diese russischen Raketen sind Hochpräzisionswaffen. Die Ziele werden also bewusst gewählt. Jene Personen, die weit weg von der Front ihre Flugbahn programmieren, seien damit für die Opfer mitverantwortlich, so Bellingcat. Auf ihrer Website nennt die internationale Investigativgruppe deshalb sämtliche Mitglieder der Gruppe mit Namen und zeigt Fotos aus ihren Accounts in den sozialen Netzen.
Der Leiter der Russland-Ermittlungen bei Bellingcat, Christo Grozev, legt nun offen, wie er die russischen Raketenprogrammierer fand und wie diese arbeiten.
Herr Grozev, Sie haben nach den Programmierern russischer Raketen gesucht. Was haben sie gefunden?
Wir fanden eine sehr geheime und spezialisierte Militäreinheit mit über 30 Mitgliedern, die von Moskau und St. Petersburg aus tätig ist. Sie programmieren die Flugrouten der Mittelstreckenraketen. Das sind zum Beispiel Raketen vom Typ Kalibr, wie sie in den vergangenen Tagen in ukrainischen Städten einschlugen, dort Zivilisten töteten und Elektrizitätswerke zerstörten. Abgeschossen werden sie von Schiffen, vom Boden oder von Flugzeugen. Aber ihre Flugbahn programmieren Menschen, die nicht an der Front stehen und kein Risiko eingehen.
Wer sind sie?
Diese Gruppe besteht aus sehr jungen Männern und ein paar jungen Frauen mit grosser IT-Erfahrung. Sie nutzen ihre technologischen Fähigkeiten, um Raketen in Einkaufszentren oder Wohnhäuser zu lenken. Das ist für uns schon sehr schwer zu begreifen. Aber es ist wohl einfacher, ein Verbrechen zu begehen, wenn man das Opfer nicht sieht. Wenn es wie ein Spiel aussieht.
Wie schaffte es Bellingcat, Programmierer zu identifizieren, die von geheimen Orten in Moskau oder St. Petersburg aus Raketen steuern?
Dazu war ein halbes Jahr intensiver Nachforschungen notwendig. Zu Beginn hatten wir lediglich Listen mit Namen Hunderttausender russischer Soldaten und Offiziere. Das sind so viele, dass die Information an sich wertlos ist. Aber wir stiessen hinter einigen Namen auf eine Abkürzung: GVC. Wir fanden heraus, dass die drei Buchstaben für «Zentrales Rechenzentrum» standen. Dann sahen wir uns auf einer anderen Liste die Anzahl der Telefongespräche einiger Personen mit GVC genauer an und entdeckten, dass sie auffallend viele Gespräche mitten in der Nacht oder am frühen Morgen geführt hatten. Und zwar an jenen Tagen, an denen Kaliber-Raketen zivile Ziele in der Ukraine getroffen hatten. Jeweils kurz vor und kurz nach dem Abschuss der Raketen. Das konnte kein Zufall sein.
Wie gross ist diese Gruppe?
Wir konnten 33 Mitglieder dieser Einheit identifizieren. Wir haben ihre Namen und kontaktieren auch alle am Telefon. Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, ihre Version der Geschichte zu erzählen.
Wie haben diese Leute reagiert?
Es war klar, dass nach dem ersten Anruf von uns die weiteren Mitglieder der Gruppe gewarnt werden. Wir hatten nur eine einzige Chance. Und tatsächlich bekamen wir beim ersten Anruf eine relativ ehrliche Antwort von einem Mitglied der Gruppe.
Was sagte er?
Er stritt gar nicht ab, dass die Zielerfassung sein Job sei. Ich fragte ihn dann, ob der Tod von Zivilisten Teil seines Auftrags sei oder ob das durch sehr schlechte Zielerfassung passiere. Er antwortete mir: «Sie wissen genau, dass ich auf diese Frage keine Antwort geben kann, ohne meine Sicherheit zu gefährden.» Das habe ich verstanden. Bei unseren folgenden Anrufen wurde schnell klar, dass die Leute schon instruiert worden waren. Alle erklärten, dass sie nicht bei der Armee seien, sondern als Klempner oder Busfahrer arbeiteten. Wir schicken ihnen Fotos, auf denen sie in Uniform zu sehen sind. Sie antworteten: Sie hätten keine Ahnung davon. Sie wurden offenbar vom Geheimdienst FSB gut instruiert.
Wissen diese IT-Nerds, dass sie durch ihre Programmierung die Raketen auf zivile Ziele lenken?
Möglicherweise begriffen sie beim ersten Mal nicht, was für ein Ziel sie da treffen. Aber inzwischen wissen sie genau, dass durch ihre Handlung Zivilisten sterben. Wenn wir aus offenen Quellen schnelle und gute Informationen über die Raketeneinschläge bekommen, dann können die Programmierer das auch. Das sind intelligente Menschen, die Zusammenhänge erkennen. An einem Tag programmieren sie einen Raketenflug, am nächsten Tag erfahren sie vom Tod vieler Zivilisten. Sie sind Killer an der Fernbedienung.
Hätten sie den Befehl zur Programmierung verweigern können?
Sie hätten Nein sagen und aussteigen können, gleich nach dem ersten Kriegstag. Sie hätten bloss ihren Job verloren. Aber sie hätten keine Strafverfolgung fürchten müssen. Es gibt für diese Leute keine Entschuldigung.