Mehr als ein Jahrzehnt lang wurden die Mieter der Siedlung Wienerfeld West mit falschen Versprechen und Ankündigungen hingehalten. Doch ihr Protest war vergeblich: Demnächst werden alle Häuser abgerissen.
Veröffentlicht in: Datum, Mai 2023

Lange haben sie sich nicht gesehen. Sicher ein paar Jahre. Jetzt steigt Renate aus ihrem Auto und sieht Erich vor seiner Haustür stehen. «Du bist also wirklich noch da?» «Natürlich. So schnell bekommen die mich da nicht raus».
Renate Klement, 62, Unternehmensberaterin, fünffache Mutter, zog schon vor ein paar Jahren weg aus der Siedlung «Wienerfeld West» am südlichen Rand des Wiener Arbeiterbezirks Favoriten. Sie wollte das nicht, im Gegenteil: Jahrelang kämpfte sie dafür, dass die Gemeinde Wien die desolaten Häuser endlich sanierte. Sie sammelte Unterschriften, schrieb Petitionen, mobilisierte Medien und die Politik. Aber irgendwann, sagt Klement, «habe ich aufgeben müssen».
Erich Pawelka ist in der Siedlung geblieben. Obwohl er die verwüsteten Gärten und die Sperrholzplatten vor Fenstern und Türen der Nachbarhäuser schon «ziemlich gruselig» findet. Auch kann er den Nachbarn beim Auszug aus ihren Wohnungen zuschauen. «Die Ilona», sagt er zu Renate Klement, sei schon im Pensionistenheim. Seine Nachbarin im ersten Stock warte noch auf die Ersatzwohnung: «Wenn sie geht, sind meine Frau und ich allein im Haus.»
Im engen Stiegenhaus vor Pawelkas Wohnung hängt eine Information von «Wiener Wohnen», der für Gemeindewohnungen zuständigen Magistratsabteilung. Aufgrund von «Vorfällen» nach den Absiedlungen müsse man leere Stiegenhäuser «abplanken» und leere Gartenhütten abreißen, wird informiert: «Damit sich dort keine unbefugten Personen aufhalten können». Daneben hängt ein Werbeplakat für die Klimaoffensive der Stadt Wien. Auf dem Plakat erklärt Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál, wie wichtig es ihr sei, «in die Wiener*innen zu investieren».

In die Häuser von Wienerfeld West aber wird nichts mehr investiert. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte lässt die Gemeinde Wien eine ganze Siedlung abreißen. Insgesamt 25 Häuser in drei Straßenzügen. Jedes Haus hat zwischen acht und zwölf Wohnungen. Jede Wohnung hat einen eigenen Garten. Die Neubauten sollen zwar den alten Grundriss der Siedlung aufnehmen, aber um ein Stockwerk höher und besonders energieeffizient werden. Statt heute etwa 150 soll Wienerfeld West dann 300 Wohnungen zählen. Der Grünraum soll bleiben. Aber die eigenen Gärten für jede Wohnung werden dann Vergangenheit sein.
«Schrittweise Erneuerung» nennt Wiener Wohnen auf einer Informationstafel vor den Abbruchhäusern den kompletten Neubau der Siedlung. Darauf ist ein sogenanntes «Rendering» zu sehen – eine Zeichnung vom zukünftigen «Gemeindebau Am Wienerfeld West». Schick sieht der Bau aus, mit großen Fenstern und Terrassen. Glückliche Menschen, die sich vor ihrer Wohnung beim Yoga dehnen, sind auch eingezeichnet. Wie die neue Siedlung wirklich aussehen wird, ist aber nicht so klar. Auch nicht, wie viel der Neubau kosten wird. Wiener Wohnen antwortet auf die Fragen von «Datum», dass zur Zeit «die Detailplanung» laufe. Erst wenn diese abgeschlossen sei, könne man «zu erwartenden Kosten konkret beziffern».
Das falsche Versprechen des Bürgermeisters
Als vor mehr als einem Jahrzehnt die ersten Gerüchte über die Abbruch-Pläne auftauchten, ließ sich Renate Klement zur Mietervertreterin wählen, ließ die Siedlung vermessen, drängte auf die Sanierung der bestehenden Bausubstanz. Als weder die Behörden noch die Stadtpolitik reagierten, sammelte sie 4‘000 Unterschriften, schrieb eine Petition an den Gemeinderat, ging in die Medien, brachte es zu Auftritten in den ORF-Sendungen «Konkret» und «Am Schauplatz».
Dass sich Klement in der roten Hochburg Favoriten die Unterstützung eines Bezirksrats der FPÖ holte, fasste die SPÖ wohl als Kriegserklärung auf. «Ich habe in ein Wespennest gestochen», erinnert sich Klement. Als sie eine Mieterversammlung organisierte, wurde der lange zuvor gebuchte Saal von Wiener Wohnen im letzten Moment storniert. Klement und ihre Mitstreiter mussten in den Raum einer Kirche ausweichen. Klement wollte mit dem damaligen Wohnbaustadtrat Michael Ludwig persönlich sprechen, doch sie wurde von dessen Mitarbeitern abgewimmelt. Und wer damals in der Siedlung «Blaue Sau» auf ihr Auto schmierte, weiß sie bis heute nicht.
Wobei auch Renate Klement zugibt, dass der Zustand der Siedlung untragbar geworden sei. In vielen Wohnungen seien die Risse in den Wänden immer größer geworden, es fehlten die Blitzableiter, die Holztreppen der Stiegenhäuser wurden morsch und bei stärkerem Wind fielen die Ziegel vom Dach. «Hätte man aber nur rechtzeitig mit Sanierungsarbeiten begonnen», ist sich Klement sicher, «hätte die Siedlung gerettet werden können».
Für die umfassende Sanierung hatten die Menschen in Wienerfeld West auch schon eine fixe Zusage. Durch die von Klement gesammelten Unterschriften und Medienberichte war die Gemeinde unter Zugzwang geraten. Im Juli 2015 präsentierte der heutige Bürgermeister Michael Ludwig ein Sanierungskonzept, das «für alle Bewohnerinnen und Bewohner leistbar sein wird». Die Gerüchte über den bevorstehenden Abbruch der Siedlung bezeichnete der damalige Wohnbaustadtrat Ludwig als «Falschmeldung». Ihr sei nun «jeglicher Nährboden entzogen worden».
Ludwigs damalige Medienmitteilung ist noch heute online zu finden. Ebenso die Jubelmeldung in der Bezirkszeitung («Siedlung ist gerettet!») und die PR-Fotos, auf denen der Wohnbaustadtrat und die Favoritner Bezirksvorsteherin den Sanierungsplan in die Kamera halten. Bildtitel: «Das Wohnparadies Wienerfeld bleibt erhalten.» Hat sich Ludwig jemals für seine Falschmeldung entschuldigt? Das Büro des Bürgermeisters antwortet nicht.
Den vielen schönen Worten folgten wenige Taten. Bei allen Wohnungen wurden die Eingangstüren umgedreht, so dass sie nach außen öffnen, wie es die Feuerpolizei vorschreibt. Auf den Dächern wurden Blitzableiter, in den engen Stiegenhäusern Feuerlöscher montiert. Die Zukunft der Siedlung blieb für die 148 Mieterinnen und Mieter aber weiterhin unklar. Die umfassende Sanierung wurde immer wieder hinausgeschoben. Bis im Juli 2021 die Bezirkszeitung meldete: «Jetzt ist es fix: Die Häuser am Wienerfeld West werden nicht saniert». Als Begründung gab Wiener Wohnen neue Prüfungen an. Dabei seien neue Baumängel entdeckt worden.

Dass die Wiener Sozialdemokratie so wenig Interesse am Erhalt der Gemeindebauten am Südhang des Wienerbergs zeigt, könnte auch mit deren Geschichte zu tun haben. Wienerfeld West ist kein Erbe des roten Wiens der Zwischenkriegszeit. Die Häuser stammen auch nicht aus der Zeit des Wiederaufbaus, so wie die benachbarte Per-Albin-Hansson-Siedlung. Nein, die ersten Siedlungen auf dem Wienerfeld waren ein Projekt der Nationalsozialisten.
Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 wurde Wien auf 25 Bezirke erweitert. Der erste NS-Bürgermeister, Hermann Neubacher, präsentierte schnell ein umfangreiches Wohnbauprogramm im Norden und Süden der Stadt. Die beiden Gartensiedlungen Wienerfeld Ost und Wienerfeld West waren «Neubachers Lieblingsprojekt», schreibt die Historikerin Ingeburg Weinberg im Buch «NS-Siedlungen» in Wien. Wohl deshalb schaffte es das Projekt auf die Titelseiten der gleichgeschalteten Presse. «Eine neue Gartenstadt auf dem Wienerfeld», jubelte die «Illustrierte Kronen Zeitung». Der «Völkische Beobachter» prophezeite, dass die günstige Lage «die Bewohner der licht- und luftlosen Spekulationsbauten aus der liberalen Ära» ins Grünland locken werde. Im Bezirksmuseum Favoriten finden sich heute in alten Dokumenten auch Hinweise, dass die Siedlungen von Zwangsarbeitern errichtet wurden.
Von den angekündigten 6.000 Häusern wurde bis 1944 nur ein Bruchteil wirklich gebaut – und das vor allem in der Siedlung Wienerfeld Ost. Nach dem Krieg gingen beide Siedlungen in den Besitz der Gemeinde Wien über. Diese sanierte später aber nur den Teil östlich der Laxenburgerstraße. Im Wienerfeld Ost sind die Fassaden frisch verputzt, die Dächer neu gedeckt, die Gärten wirken gepflegt. Alles sieht hier nach hoher Wohnqualität aus. Wienerfeld West hingegen ließ man verfallen. Den Grund dafür verstehen die Mieterinnen und Mieter bis heute nicht. Der Unternehmenssprecher von Wiener Wohnen erklärt ihn mit «wesentlichen Unterschieden bezüglich der erforderlichen Maßnahmen und hinsichtlich diverser Normen und Richtlinien». Außerdem hätte eine Sanierung von Wienerfeld West «keine wesentliche Verbesserung des Baubestandes und der Nutzbarkeit für die Mieter*innen erzielen können».
Nach dem Krieg baute eine der SPÖ nahestehende Genossenschaft dort weiter, wo die Nazis aufgehört hatten. Das zerstörte Wien brauchte schnell neuen Wohnraum. Qualität war nicht so wichtig. So entstanden im Wienerfeld West neben der NS-Siedlung dreistöckige Wohnblocks ohne Gärten und meistens ohne Balkone. Diese Bauten sind nicht vom Abriss bedroht, auch wenn sie eine gewisse Trostlosigkeit ausstrahlen. Was vor allem fehlt, sind kulturelle Einrichtungen und Geschäfte. Oder einfach Plätze, an denen Menschen einander begegnen können.
Was ebenfalls fehlt, ist die Verbindung zur Umgebung: Nach Osten hin bilden die vierspurige Laxenburger Straße, nach Süden hin die Südosttangente und die Verbindungsbahn lärmende Barrieren. Nach Norden hin ist es ein monströser Gemeindebau aus den 1980 Jahren. In dieser Lage wirkt Wienerfeld West isoliert. Wie in einer Zeitkapsel der 1950er Jahre.
Pizzaöfen und Swimmingpools im Garten
Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – loben die letzten Bewohnerinnen und Bewohner die hohe Lebensqualität. Die Wohnungen seien zwar klein, aber gut aufgeteilt, mit eigenem Bad und Klo. In die eigenen Gärten haben die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten viel investiert: Einige mauerten Pizzaöfen, andere stellten Swimmingpools auf, bauten Lauben oder Gartenhütten. Diese Investitionen sind nun verloren. Viele Gärten sind verwüstet, Terrassen wurden zertrümmert, Gartenhäuschen abgetragen.
Nur hinter jenem Haus in der Berthold-Viertel-Gasse, in dem Renate Klement bis vor wenigen Jahren lebte, sind die Gärten noch überraschend gut gepflegt. Die Blumenbeete werden gegossen, der Rasen ist gemäht. Dafür sorgen die letzten Mieter, das Ehepaar Judit und Miklos Botlo.
Die gebürtigen Ungarn leben seit drei Jahrzehnten in der Siedlung. Über dem Eingang zu ihrem eigenen Garten wächst im Halbrund ein Rosenstrauch, den pflanzten sie vor 20 Jahren zu ihrer Hochzeit ein. Im Nachbargarten, der einst Renate Klement gehörte, haben sie ein kleines Glashaus aufgestellt. Darin züchtet Miklos Botlo alte Rebsorten aus der Ukraine. Er hat sie aus mehreren ukrainischen Gemeinden bekommen, damit sie im russischen Angriff nicht unwiederbringlich verloren gehen. Sobald der Krieg vorbei ist, möchte er die Reben persönlich zurückbringen.
Werden Judit und Miklos aber solange überhaupt noch im Wienerfeld West wohnen können? Wiener Wohnen spricht von einer «intensiven Begleitung der Mieter*innen während des gesamten Erneuerungsprozesses»: In persönlichen Gesprächen erhebe man Bedürfnisse und Anforderungen und biete dann mehrere Ersatzwohnungen zur Auswahl an. Miklos Botlo sagt hingegen, dass er den bislang letzten Kontakt mit Wiener Wohnen im vergangenen Sommer hatte: «Da rief ein Beamter an und wollte, dass wir sofort am Telefon der Ersatzwohnung zustimmen», erinnert sich Botlo: «Mir ging das zu schnell. Ich wollte einen persönlichen Termin. Seither habe ich nichts mehr von Wiener Wohnen gehört.»

Erich Pawelka leitet heute zwar als Nachfolger von Renate Klement Obmann den Mieterbeirat und hat in seiner Funktion immer wieder Kontakt mit dem Magistrat und dem Büro der Wohnbaustadträtin. Aber als Mieter, sagt Pawelka, «hat man mich vor fast zwei Jahren gefragt, ob meine Familie wegziehen möchte und unter welchen Rahmenbedingungen.» Danach habe er nichts mehr von Wiener Wohnen gehört. Dafür tauchten immer wieder Arbeiter von Subfirmen auf, die in den leeren Wohnungen Boden aufreißen und auch sonst wenig sensibel vorgehen würden. Hätte er nicht aufgepasst, so Pawelka, «hätten sie mir auch meinen Gaszähler abmontiert».
Heute leben noch 35 Menschen in der Siedlung. In diesen Wochen soll mit dem Abbruch der ersten Häuser begonnen werden. Durch die Stille der Gärten dringt das Brummen eines Baggers. In der Soesergasse werden die Wasserleitungen vom Hauptstrang getrennt: Das Präludium zum traurigen Finale. Offenbar soll rund um die letzten noch bewohnten Häuser eine riesige Baustelle entstehen.
Erich Pawelka schaut den Arbeitern kurz zu, dann geht er zurück in seine Wohnung. Er spricht von «psychologischem Druck» auf jene, die noch hier wohnen und die sich einen Neustart oft auch gar nicht leisten könnten. Auch Renate Klement hat genug gesehen. Wäre sie nicht weggezogen, «hätten wir gemeinsam vielleicht was erreichen können», glaubt sie. Nun sei die Zerstörung nicht mehr aufzuhalten.
Einig sind sich jene, die hier noch wohnen mit jenen, die weggezogen sind: In die neue Häuser im Wienerfeld West würden sie niemals ziehen. «Zu viele Erinnerungen hängen an der alten Siedlung», sagt Miklos Botlo: «Wir haben hier unser Leben aufgebaut. Wenn wir nun wirklich wegmüssen – dann für immer.»