Wie hilft man Kindern, Springminen und Blindgänger zu erkennen? Eine Schweizer Organisation schickt ihre Leute in die Schulen – und setzt riesige Kettenfahrzeuge ein.
Veröffentlicht in: Tagesanzeiger, 27. Mai 2023
Daumen hoch? Daumen runter? Alina Korolenko spielt mit rund 50 Schülerinnen und Schülern im Festsaal der Dorfschule von Hontschariwske ein Spiel: «Wenn ihr spazieren geht und am Weg eine Limonka findet: Werdet ihr sie aufheben?», fragt Alina. «Nein», schreien die zwischen 8 und 10 Jahre alten Kinder vergnügt und senken ihre Daumen. «Werdet ihr schnell weggehen und eure Eltern oder die Polizei holen?» Alle Daumen schnellen nach oben: «Jaaa!».
Ein harmloses Spiel. Doch es kann Leben retten. «Limonka» (wörtlich: Zitrönchen) heissen in der Ukraine (und in Russland) die grünen, zitronenförmigen Handgranaten. Sie liegen zu Tausenden, vielleicht Zehntausenden in den Wäldern und Wiesen rund um Hontschariwske im Norden der Ukraine. Ebenso wie Schmetterlingsminen, Springminen oder andere Sprengfallen, die Menschen schwer verletzen oder töten können.
Landminen werden vom Militär eingesetzt, um den Vormarsch des Gegners zu verlangsamen oder beim eigenen Rückzug eine schnelle Verfolgung zu verhindern. Sie dienen aber auch dazu, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und die Moral des Gegners zu schwächen.
Seit dem Überfall Russlands im Februar 2022 haben Wladimir Putins Truppen im Norden, Osten und Süden der Ukraine riesige Minenfelder angelegt sowie Sprengfallen in zerstörten Häusern, in Wäldern und Feldern hinterlegt. «Was die Russen hier zurückgelassen haben, ist besonders ekelhaft», sagt Anthony Connell. Der 66-jährige Neuseeländer diente 25 Jahre in der Armee, war beim Minensuchen in Albanien und anderen Konfliktzonen tätig. Jetzt sitzt er im Büro einer ehemaligen Brandwache in der nordukrainischen Stadt Tschernihiw. Hier leitet er das Ukraine-Programm der zivilen Schweizer Entminungsorganisation FSD (Fondation Suisse de Déminage).
In Bosnien begann es
FSD wurde 1998 gegründet, der erste Einsatz war die Minenräumung in Bosnien. Seither haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schweizer Organisation in Afghanistan, im Irak und in anderen Ländern über eine Million Minen aufgespürt und zerstört. Seinen Hauptsitz hat FSD in Genf, die Einnahmen kommen aus Spendengeldern, unter anderem vom Schweizer Aussendepartement EDA, von der eidgenössischen Entwicklungshilfe Deza, der Glückskette, Kantonen und Gemeinden.
In der Ukraine ist FSD seit 2015 tätig, mittlerweile mit über 150 ukrainischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie 20 internationalen. Sie kommen aus Grossbritannien, Kanada oder Neuseeland. Schweizer Bürgerinnen und Bürger sind nicht dabei. So wie Anthony Connell haben die meisten eine militärische Ausbildung und waren zuvor als Minenräumer in anderen Krisengebieten tätig. Auf die Frage nach den Motiven, in die Ukraine zu gehen, antworten sie einhellig: Helfen, ohne direkt am Krieg beteiligt zu sein.
Auch Alina Korolenko, die Frau mit dem Minen-Suchspiel in der Schule, gehört zum Team von FSD. Sie sucht an diesem heissen Vormittag im Mai keine Minen im Dorf Hontschariwske. Gemeinsam mit zwei Kollegen, die beide Olexander heissen, klärt sie Schülerinnen und Schüler über die Gefahren auf, die ringsum in den Wiesen und Wäldern lauern.
Im Festsaal der Schule gibt es zuerst eine kindgerechte Minen-Kunde mit lustigen Ratespielen: Alina und ihre Kollegen zeigen mit einem Beamer vier Fotos von typischen Landschaften der Region: Fluss, Wiese, Birken, Fichten. Auf dem vierten Bild liegt eine Panzermine im Gras. «Seht ihr hier irgendwo eine Mine?» Die Kinder lachen: «Bild 4!» Auch die an einen Baum gebundene Limonka entdecken sie schnell.
Draussen im Wald, in der ukrainischen Wirklichkeit, können solche Granaten in Kopfhöhe hängen, verbunden mit kaum sichtbaren Stolperdrähten, die zwischen den Bäumen gespannt werden. Berührt man den «Trip Wire», wie der Draht in der englischen Fachsprache heisst, löst dieser die Explosion aus. «Wir lassen unsere Kinder deshalb nicht mehr in den Wald», sagt Schuldirektorin Nina Rudnik. Sie empfängt den Journalisten aus der Schweiz und seine Begleiter herzlich. Es gibt Umarmungen und schwarzen Tee. «Wir sind der Schweiz sehr dankbar, dass sie uns jetzt bei der Minenräumung hilft», sagt Rudnik.
Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium starben von Beginn des Krieges bis Ende April 2023 insgesamt 124 ukrainische Zivilisten durch Minen, darunter 6 Kinder. Weitere 286 Personen wurden verletzt, unter ihnen 33 Kinder. Am stärksten betroffen seien Regionen wie Cherson oder Charkiw, also der Süden und Osten der Ukraine, sagt in einem TV-Interview Rusland Berehulia, Leiter der Abteilung für Minensuche im Verteidigungsministerium. Auch im Norden, rund um die Stadt Tschernihiw, steht die Entminung erst ganz am Anfang. Obwohl sich dort die Russen nach dem missglückten Vormarsch auf Kiew schon Anfang April 2022 zurückziehen mussten.
Jede Veränderung in der Natur bedeutet Gefahr
In der Schule von Hontschariwske klären Alina und die beiden Olexander nach den Kindern auch die Teenager über die Minengefahren auf. Für die Jugendlichen gibt es genauere Ausführungen über Aussehen und Wirkung der tödlichen Fallen. FSD-Teamleiter Olexander Paschenko projiziert die Bilder verschiedener Minen auf die Leinwand und beschreibt ihre oft tödliche Wirkung.
«Ihr müsst auf jede Veränderung in der Natur achten, die euch seltsam erscheint. Denn das bedeutet: Gefahr!»
Die russische POM-2 zum Beispiel: «Sie aktiviert sich von selbst und verstreut rund um sich Stolperdrähte aus Nylon, die für das menschliche Auge kaum sichtbar sind. Ihr müsst also auf jede Veränderung in der Natur achten, die euch seltsam erscheint. Denn das bedeutet: Gefahr!»
Oder die OZM-72: Eine Splittermine, die unter der Erde liegt, aber mit einem Stolperdraht verbunden ist. «Wird dieser berührt, springt die Mine auf eine Höhe von bis zu 1,5 Metern und explodiert dort», erklärt Olexander Paschenko. Die Splitter treffen einen Menschen in den Bauch, Hals oder sogar Kopf. Auf den Boden legen? Nicht einmal das helfe, denn die Splitter gingen auch nach unten, sagt der Experte: «Die Mine vernichtet alles in einem Radius von 16 Metern.»
Sowohl die Kinder als auch die Jugendlichen hören 45 Minuten lang konzentriert zu. Angst hätten sie aber nicht, versichern danach die achtjährige Polina und der neunjährige Timofei. Sie kennen den Krieg. Timofei erzählt, sein Vater sei unlängst mit seinem Tanklastwagen am Strassenrand auf eine Mine gefahren: «Ihm ist nichts passiert, nur sein Wagen hat ein Rad verloren.» Polina hat gemeinsam mit ihrem Grossvater eine Mine im Wald entdeckt. Es war ein deutsches Produkt, aus dem Zweiten Weltkrieg. Über 70 Jahre nach Kriegsende liegen auch diese Sprengmittel noch auf ukrainischem Boden.
Die Mine explodiert schon, wenn sich ein Mensch nähert
Im Zweiten Weltkrieg mussten Soldaten die Minen noch per Hand eingraben. Heute können die tödlichen Fallen aus sicherer Distanz gelegt werden. Etwa die russischen Minen vom Typ POM-3: Sie stecken in den Gefechtsköpfen von Raketen, die bis zu 15 Kilometer vom Ziel entfernt abgeschossen werden. Über dem Zielgebiet segeln die Minen mit kleinen Fallschirmen zu Boden.
Bei diesen Minen registriert ein Sensor in der Mine Erschütterungen. Die Mine explodiert also schon, wenn sich ihr ein Mensch auch nur annähert. Ihre Splitter sollen bis zu 20 Meter weit fliegen. Auch wenn FSD bisher solche Minen zumindest im Norden der Ukraine noch nicht entdeckt hat: «Wir wissen genau, dass sie da sind», sagt FSD-Programmleiter Anthony Connell.
Für die zivilen Minensucher ist die Ukraine eine Sisyphosarbeit. Sie dürfen nur weit abseits der Front arbeiten, mindestens 40 Kilometer entfernt. Dort gibt es zwar auch genug zu tun. Aber während die FSD-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen in ihren blauen Splitterschutzwesten und mit Gesichtsschutz mühevoll Wiesen und Wälder durchkämmen, werden an der Front schon die nächsten Minenfelder angelegt.
In der von der Schweizerischen Offiziersgesellschaft herausgegebenen «Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift» wird die Räumung von Blindgängern und Landminen in der Ukraine als «eine der grössten kriegsbedingten Herausforderungen der jüngsten Geschichte» bezeichnet: Ein einziger Kampftag führe zu «ungefähr einem Monat Räumung der zurückgebliebenen Minen und Sprengmittel».
Das Grauen im Keller
Etwa 15 Kilometer südlich des Hauptquartiers in Tschernihiw entfernt hat ein Team von FSD im Dorf Jahidne einen Stützpunkt in einem zerstörten Landwirtschaftsbetrieb eingerichtet. Zu Beginn des Krieges war hier die ukrainische Armee einquartiert, doch am 5. März kamen die Russen und richteten ein Munitionsdepot ein, das bald danach durch ukrainischen Beschuss in die Luft flog. «Blindgänger liegen überall im Umkreis von mehreren Hundert Metern», erklärt Teamchef John Aldridge. Der 41-jährige Brite hat eine militärische Vergangenheit mit Minenräumungseinsätzen in Afghanistan und im Irak. Er spricht die Sprache der Militärs und sagt «UXO» (Unexploded Ordnance), wenn er Blindgänger meint.
Gesichert und markiert ist nur die Zufahrt von der Hauptstrasse, der Parkplatz, der Sammelplatz und der Weg zum Plumpsklo. Wer diese Zonen verlässt, muss Schutzausrüstung tragen: Splitterschutzweste und Gesichtsschutz aus Plexiglas.
Priorität für die Minensucher hat vorerst nicht die Säuberung der eingestürzten Lagerhallen oder ausgebrannten Autowracks. Sondern das riesige Sonnenblumenfeld nahe der Hauptstrasse. Wie lange er für seinen Abschnitt brauchen wird, kann Teamchef Aldridge nicht sagen: Die Russen haben viele böse Überraschungen hinterlassen. Das Dorf Jahidne wurde Anfang März 2022 von einer Einheit der russischen Armee aus der fernöstlichen Region Burjatien besetzt. Nach der Befreiung am 1. April 2022 fanden die Bewohner Minen und Handgranaten in ihren Gärten, auf Küchenregalen und sogar in der Toilette.
Burjatische Soldaten sind in der Ukraine für ihre Grausamkeit bekannt geworden – und dieses Image haben sie in Jahidne auf brutale Weise bewiesen. Gleich nach dem Einmarsch sperrten sie fast alle Dorfbewohner, etwa 300 Menschen, in den Keller der Schule und hielten sie dort drei Wochen gefangen: alte Männer und Frauen, Schulkinder, Mütter mit Babys. Es gab kein Licht, keine Heizung und nur einmal am Tag durften die Kübel für die Notdurft im Freien entleert werden.
Mindestens zehn Menschen starben im Keller. Die Überlebenden mussten neben den Leichen ausharren. «Wir durften die Toten erst nach ein paar Tagen hinaustragen», erinnert sich Iwan Polgui, der einen Schlüssel zum Keller hat und ihn dem Journalisten und seinen Begleitern zeigt. Auch nach einem Jahr liegt alles noch so da, wie es die Überlebenden zurückgelassen haben, als sie am 1. April 2022 den Keller endlich verlassen konnten: verschimmelte Matratzen, Kartons als Betten, zerschlissene Jacken, Kinderbücher, leere Packungen russischer Armeeverpflegung, die von den burjatischen Soldaten manchmal verteilt wurde.
Einige Kinder seien in Ohnmacht gefallen, als sie zum ersten Mal nach drei Wochen das Sonnenlicht gesehen hätten, sagt Polgui. Auch er war im Keller gefangen. Als der 63-Jährige nach der Befreiung in sein Haus zurückkehrte, fand er mehrere Granaten in seinem Garten. Erst vor kurzem sei eine Frau im Wald in eine Sprengfalle gelaufen und schwer verletzt worden, erzählt er: «Sie konnte aber mit ihrem Handy die Rettung rufen. Das hat ihr das Leben gerettet.»
Das Suchen und Entschärfen solcher Sprengmittel ist eine komplexe und gefährliche Aufgabe – aber es ist niemals so, wie es in Filmen dargestellt wird. Nicht einmal in vermeintlich seriösen Filmen, wie dem Drama um ein Minenräumungsteam der US-Armee «The Hurt Locker». Auch da «war so ziemlich alles falsch dargestellt», sagt FSD-Programmleiter Anthony Connell: «Deshalb müssen wir die Menschen zuerst immer von den absurdesten Vorstellungen befreien.» Zum Beispiel, dass eine Tretmine «klick» mache, wenn man auf sie tritt und erst explodiert, wenn man wieder runtersteigt. «Unsinn», sagt Connell: «Eine Mine macht niemals klick. Sie macht bumm – und das wars.»
Bevor mit der Minensuche überhaupt begonnen werden kann, muss das Territorium sondiert und genau vermessen werden. Eigens dafür ausgebildete Teams zeichnen Karten und teilen darauf das zu räumende Gebiet in Quadrate mit 50 Meter Seitenlänge. Dann wird ein Quadrat nach dem anderen durchsucht. Sechs bis acht Minensucherinnen und -sucher stehen nebeneinander, schwenken ihre Metalldetektoren vor sich über den Boden: «Rechts, links», gibt der Teamleader den Takt vor. Wie bei einem Ruderwettbewerb, nur viel langsamer.
Kein Zentimeter Boden darf ausgelassen werden. Es ist eine Frage von Leben und Tod.
Zehn Wochen für ein einziges Fussballfeld
Ein kleines Rechenbeispiel zeigt, wie mühsam die Minensuche wirklich ist: Ein Fussballfeld hat etwa 7100 Quadratmeter. Bei FSD rechnet man, dass eine Person pro Tag eine Fläche von 15 Quadratmetern durchsucht. Ein Team mit acht Minensuchern, das sechs Tage pro Woche arbeitet, bräuchte für die gründliche Durchsuchung eines einzigen Fussballfelds also zehn Wochen. Und das nur dann, wenn das Team auf keine grösseren Probleme stösst.
Oft gibt es aber Probleme. Erst einmal spüren die Detektoren jedes Metall auf. Gerade in Gegenden, in denen viel zerstört wurde, liegt auch viel ungefährliches Metall auf und im Boden. Es muss also erst einmal geklärt werden, ob das alarmierende Piepen der Detektoren wirklich eine Gefahr anzeigt. Ein weiteres Problem ist die Natur. Auf den Feldern, die nicht bearbeitet werden können, wächst das Gras oft fast hüfthoch. Weil sich darunter aber Stolperdrähte verbergen können, müssen die Minensucher auf die Knie und mit ganz feinen Stecken die Wiese abtasten, immer mit einer Bewegung von unten nach oben und so leicht, dass auch die Berührung des Drahtes eine Mine nicht auslösen könnte. Ein unendliches Geduldsspiel.
Geduld haben aber die Menschen auf dem Land nicht mehr. Sie wollen ihre Felder bestellen. «Und wenn die Bauern Minen auf ihren Feldern finden, wollen sie diese selbst entfernen», sagt FSD-Mitarbeiter Alexander Kostutschenko: «Wir können sie nicht daran hindern. Wir können sie nur warnen, dass sie sich in Lebensgefahr begeben.» Was die eigene Arbeit angeht, ist Kostutschenko eher pessimistisch: «Wir werden wohl für immer hierbleiben.» Denn in den Wäldern und Sümpfen sei es unmöglich, alle Minen aufzuspüren.
Von Tschernihiw geht es in knapp zwei Stunden nach Kiew, durch zahlreiche Checkpoints und entlang von Minenfeldern und ausgebrannten Häusern. Aus der Hauptstadt fahren Züge in den Osten, der schnelle «ICplus» braucht fünf Stunden in die Millionenstadt Charkiw.
Hier drangen die Russen zu Beginn des Kriegs bis in die östlichen Vororte vor, zerstörten die Infrastruktur, hinterliessen Minen und Blindgänger. An der Schnellstrasse von Charkiw nach Isjum stehen riesige Plakatwände mit Fotos von Handgranaten, an Bäume gebunden. Darüber die Warnung: «Geht nicht in den Wald!»
Unter einer zerstörten Hochspannungsleitung beim Dorf Korobotschkine arbeitet das FSD-Team von Tin Vrancic mit einer panzerähnlichen Maschine. Die Stromleitung versorgt benachbarte Dörfer und soll so schnell wie möglich repariert werden. Damit die Techniker zu den Masten können, muss erst gesichert sein, dass darunter nicht Minen oder Sprengfallen versteckt sind.
Minenräumen mit Maschinen geht etwa zehnmal so schnell wie mit Menschen mit Metalldetektoren. Mehrere Firmen bieten international solche Geräte an, unter anderem die Global Clearance Solutions (GCS) mit Zentrale in Schwyz und Produktion in Süddeutschland oder die Firma Digger im Kanton Bern. Die Schweizer Organisation FSD verwendet jedoch zwei Maschinen aus kroatischer Produktion.
Die Minenräummaschine MV-10 im Dorf Korobotschkine. Sie wird ferngesteuert, der «Fahrer» muss im Einsatz mindestens hundert Meter weit weg stehen. Er könnte sonst von den Splittern explodierender Minen getroffen werden.
Die grössere Maschine, die MV-10, ist 20 Tonnen schwer. Sie ist jetzt in Korobotschkine, östlich von Charkiw, im Einsatz. Sie fährt auf Ketten und sieht ein wenig wie ein tiefer gelegter Mähdrescher aus. An der Front hat sie eine riesige Schaufel, darin zwei Walzen. An der vorderen Walze hängen Ketten, die den Boden abklopfen. Dahinter rotiert eine weitere Walze mit Hacken, die den Boden umpflügen. So können auch Minen in der Erde erwischt werden.
Aber auch dieser Einsatz hat seine Tücken und Probleme. Da wären erst einmal die Kosten. Nicht nur die Anschaffung für rund zwei Millionen Franken. Die MV-10 verbraucht 50 Liter Diesel – pro Stunde. Treibstoff ist in der Ukraine jedoch Mangelware und teuer. Hinzu kommt die ständige Begleitung durch eine mobile Reparaturwerkstatt und viel Personal.
Ein weiterer Nachteil: Wo die MV-10 mit ihren 20 Tonnen drüberfährt, sind der Boden, der Weg oder die Strasse weitgehend zerstört. Ausserdem muss auch dort, wo die Maschine ihr Werk erledigt hat, die Fläche noch einmal durch Menschen mit Metalldetektoren abgesucht werden. Erst dann kann sie als minenfrei erklärt werden. Die Maschinen würden die Arbeit natürlich beschleunigen, sagt der Ukraine-Programmchef von FSD, Anthony Connell.
Zurzeit hat er andere Probleme: Es fehlen Metalldetektoren und Schutzausrüstungen für das Personal. Durch den Ukraine-Krieg ist der Markt leer gekauft. «Wir haben im Dezember in Deutschland Minensuchgeräte bestellt», sagt Connell, «und können nur hoffen, dass wir sie im Juni bekommen.» Neue Schutzwesten sollen aus Zimbabwe kommen.
Die MV-10 hat sich bereits ziemlich weit vorgearbeitet. Direkt bei der Arbeit ist sie aber nur aus grosser Distanz zu beobachten. Oder mit der Kamera einer Drohne. Nahe rangehen darf niemand, denn trifft die Maschine auf eine Mine, könnten die Splitter tödlich sein. Selbst der Fahrer muss mit seiner Fernsteuerung gut 100 Meter entfernt sein. Auch aus der Ferne ist die mächtige Staubwolke zu sehen, welche die Maschine bei ihrer Arbeit aufwirbelt.
Teamchef Tin Vrancic, 34 Jahre alt, stämmig und mit hellem Vollbart, kommt ebenso wie seine Maschine aus Kroatien. Er hat sein eigenes Land im Krieg erlebt, der 1995 endete. Seither suchen zivile Organisationen wie FSD dort die Minen in den ehemaligen Frontgebieten. «Erst 2026 wird Kroatien vollkommen minenfrei sein», sagt Vrancic. Kroatien ist ein kleines Land, die Front war etwa im Vergleich zum Donbass nicht besonders lang. Wie lange die Minenräumung in der Ukraine dauern wird, wagt man bei FSD nicht einmal zu schätzen. Wahrscheinlich, sagen Minensucher wie Tin Vrancic da einhellig, «wird unsere Arbeit hier nie zu Ende gehen».