Der britische Russland-Experte Mark Galeotti sieht vor den Präsidentenwahlen selbst den innersten Kreis des russischen Regimes verunsichert und Putins Macht geschwächt. Er erwartet soziale Aufstände.
Veröffentlicht in: Datum, April 2024
Bei den russischen Präsidentenwahlen im März ist die Wiederwahl von Wladimir Putin wohl sicher. Gibt es dennoch irgendetwas, das uns überraschen könnte?
Das unerwartete Auftauchen von Boris Nadjeschdin als Gegenkandidat könnte noch interessant werden. Das sieht wie eine politische Herausforderung für den Kreml aus.
Ist Nadjeschdin nicht eine Schöpfung des Kreml? Damit der Schein demokratischer Wahlen gewahrt wird?
Das glaube ich nicht. Er kann ganz unterschiedliche Wählergruppen ansprechen, die jedoch eines verbindet: Sie haben die Nase voll von dem, was in Russland vor sich geht. Nadjeschdin kritisiert den Krieg in der Ukraine, allerdings aus pragmatischen und nicht aus moralischen Gründen. Er will Putin stürzen, schreckt aber davor zurück, Putin persönlich zu kritisieren. Er ist vorsichtig und ich bin mir sicher, dass er vor der Ankündigung seiner Kandidatur Gespräche mit Leuten im Kreml geführt hat, ob das in Ordnung sein? Und sie entschieden sich für «ja», weil sie ihn für keine Bedrohung hielten.
War das vielleicht ein Irrtum?
Wir sehen jetzt viel Enthusiasmus rund um seine Kandidatur. Alexej Nawalny setzt sich aus der Gefangenschaft heraus für seine Wahl ein. Ich denke, Nadjeschdin ist für den Kreml problematischer geworden. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das zentrale Wahlkomitee schließt ihn von der Kandidatur aus – und riskiert damit massive Proteste. Oder sie lassen ihn kandidieren, weil das auch die Wahlbeteiligung erhöhen würde. Aber dann geben sie ihm im Wahlkampf eine Plattform, um Dinge zu sagen, die Putin nicht hören möchte.
Also gibt es dieses Mal eine echte Alternative zu Putin?
Wir wissen natürlich, dass Putin die Wahl gewinnen wird. Aber nun geht es darum, wie hässlich der Prozess sein muss, damit jenes Ergebnis erreicht wird, welches der Kreml bekannt geben will. Wird offensichtliche Manipulationen der Stimmzettel geben? Es gibt jetzt die Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe, was Fälschungen in gewisser Weise einfacher macht. Aber es gibt auch Leute, die mit cleveren Algorithmen überprüfen können, ob die elektronischen Stimmzettel irgendwie verändert wurden.
Zu offensichtliche Fälschungen könnten zu Protesten führen?
Das haben wir nach den Präsidentenwahlen 2012 gesehen. Da führen die offensichtlichen Fälschungen zu den größten Proteste, die wir im postsowjetischen Russland je sahen.
Das Russland des Jahres 2024 ist ein anderes als jenes von 2012. Wäre es heute überhaupt noch möglich, auf die Straße zu gehen und gegen Putin zu protestieren?
Nicht in der Größenordnung wie vor 12 Jahren. Denn die Sicherheitskräfte werden hart und schnell durchgreifen. Aber die russische Opposition ist ziemlich einfallsreich, wenn es darum geht, den Protest auf anderen Wegen auszudrücken. Nawalny empfahl seinen Anhängern, am Mittag eines bestimmten Tages zu wählen. So würde die Opposition exakt zur gleichen Zeit abstimmen. Sie schwenken keine Fahnen, halten keine Plakate hoch. Niemand kann sie verhaften, nur weil Sie alle mittags zur Wahl zu gehen. Und doch ist es ein Zeichen.
Ein Zeichen, das Putin aber nicht wirklich gefährlich wird?
Diese Wahlen haben nur einen Zweck: Sie sollen Putins Herrschaft legitimieren. Wenn sie zu offensichtlich manipuliert sind, bleibt Putin zwar an der Macht, aber ohne den Legitimationsschub, den er eigentlich beabsichtigte. Deshalb ist jede Art von Protest wichtig. Das Regime wird nicht durch eine Volksaufstand hinweggefegt. Aber letztendlich könnte das, was Putin eigentlich legitimieren soll, ihn weiter delegitimieren.
Aleksej Nawalny wurde in ein besonders hartes Straflager am nördlichen Polarkreis verlegt. Dennoch meinen Sie, dass er immer noch einen gewissen Einfluss auf die Wählerinnen und Wähler hat?
Ja, er immer noch großen moralischen Einfluss. Das war ja einer der Gründe, warum er nach Russland zurückkehren wollte. Er wollte nicht ein weiterer ausgewanderter Oppositionsführer sein, der die Russen vom Büro einer westlichen Denkfabrik dazu aufruft, riskante Protestaktionen durchzuführen. Er ist so etwas wie die Dissidenten der Sowjetzeit geworden: Kein Anführer einer Bewegung, sondern eine Person mit beträchtlicher moralischer Macht aufgrund der Risiken, die er selbst einzugehen und zu akzeptieren bereit ist. Es gibt keine Nawalny-Bewegung mehr, die wurde zerstört. Aber es gibt einen Nawalny-Faktor. Seine Botschaften werden über Mundpropaganda und soziale Medien verbreitet.
Es wäre doch schon längst leicht gewesen für das Regime, Nawalny zu töten und einen Unfall vorzutäuschen. Wieso will ihn Putin am Leben lassen?
Würde Nawalny etwas zustoßen, würde niemand an einen Unfall glauben. So würde der Tod Nawalny zum Märtyrer machen. Und das will das Regime verhindern. Stattdessen soll Nawalny vergessen werden. Märtyrer werden nie vergessen. Menschen schon. Das Regime glaubte, dass Nawalny nach ein, zwei Jahren in Isolation im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr existieren werde. Doch er ist in der Lage, die Kommunikation außen aufrechtzuhalten. Er hat immer noch Kontakt zu seinen Anwälten, über die er Tweets verschickt. Sie werden ihn weiter am Leben lassen, aber die Daumenschrauben immer mehr zudrehen. Sie machen es seinen Anwälten immer schwerer, an ihren Klienten heranzukommen. Sie tun alles, um ihn zu isolieren.
Einerseits geht Putin mit aller Härte gegen Menschen vor, die auch nur eine Regenbogenfahne zeigen. Andererseits kann Nawalny aus dem Straflager immer noch Tweets verschicken. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Dieses Regime hat einen seltsamen Legalismus: Es bricht ständig das Gesetz, hält sich aber gern an eigenen Gesetzesnormen. Und das nützen Nawalny und sein Team sehr effektiv aus: Sie setzen die vom Regime gemachten Gesetze gegen das Regimes ein. Zum Beispiel ermöglicht es jede neue Anklage gegen Nawalny, dass er mit seinen Anwälten sprechen darf. Und die Anwälte sind seine Lebensader. Das Regime bringt ihn in ein weit entferntes Gefangenenlager, es lässt seine Anwälte tagelang warten lassen, bevor sie ihn sehen können. Aber es hält sich an die eigenen Gesetze.
Die Informationen, die wir derzeit aus Russland bekommen, sind sehr widersprüchlich: Einerseits sollen die Sanktionen wirkungslos sein und die russische Wirtschaft wachsen. Auf der anderen Seite kommen Berichte, dass es im Land nicht einmal mehr Eier zu kaufen gibt und die Wohnungen kalt bleiben. Was stimmt nun?
Beides. Putins Regime gibt derzeit viel Geld aus, um mehr Panzer zu bauen, Munition zu erzeugen und Uniformen zu nähen. Also gibt es mehr Industrieproduktion, die Rüstungsindustrie wurde Drei-Schicht-Betrieb an sieben Tage die Woche umgestellt. Aber da dreht sich alles um den Krieg. Dem zivilen Sektor hingegen fehlen Investitionen und Arbeitskräfte. Außerhalb der Kriegsproduktion werden andere Bereiche vernachlässigt. Das betrifft nicht nur die Produktion von Eiern, sondern etwa auch die Infrastruktur. Das wird Russland langfristig sehr schmerzhafte Kosten verursachen. Kurzfristig sieht es jedoch so aus, als würde die Wirtschaft boomen. Außerdem können autoritäre Regime Sanktionen lange überleben. Fragen Sie einfach die Nordkoreaner. Aber Sanktionen verursachen sehr hohe Kosten. Wenn man Mikrochips nicht einfach offen bestellen kann, sondern sie über Zwischenhändler schmuggeln lassen muss, wird es etwas komplexer und sicherlich auch deutlich teurer.
Die Sanktionen schmälern also die Fähigkeit Russlands, diesen Krieg zu führen?
Ganz bestimmt, aber wir können keine schnellen Ergebnisse erwarten. Wir sehen nur die Hypotheken von morgen, um den heutigen Krieg zu finanzieren.
Könnte nicht der Ausfall der Heizungen in diesem strengen Winter zu sozialen Unruhen führen?
Vielleicht nicht sofort. Wenn es zu Protesten in Russland kommen wird, dann nicht wegen des Kriegs in der Ukraine, sondern wegen Problemen des täglichen Lebens. Weil die Menschen frieren, oder weil Grundnahrungsmittel fehlen. Aber dieser Protest könnten dann schnell politisch werden.
Wie können wir uns das vorstellen?
Das Russland von 2024 ähnelt in gewisser Weise der Sowjetunion der 1980er Jahre. Es werden enorme Summen für Militär und Sicherheit ausgegeben. Gleichzeitig verschlechtert sich das Leben der Menschen, aber nur allmählich. Der brutale Polizeistaat unterdrückt Proteste, aber das Protestpotenzial ist groß. So kann das noch jahrelang weiter gehen. Aber dann wird vielleicht in einer Kleinstadt eine große Fabrik geschlossen und das führt zu Protesten, die sich dann ausbreiten. Wer hätte in den 1980er Jahren gedacht, dass ein Streik in einer Werft in Danzig in Polen zum Kern der landesweiten Solidaritätsbewegung werden würde? Eine ähnliche Situation haben wir heute in Russland. Nur: Wenn so ein sozialer Protest entsteht, wer wird ihn für sich vereinnahmen? Die Liberalen, die Putin loswerden und eine Demokratie errichten wollen? Oder die Nationalisten, die alle korrupten Beamten erschießen wollen? Das ist zurzeit die größte Sorgen der Sicherheitsbehörden.
Ist Putin jetzt stärker als vor seinem Überfall auf die Ukraine? Oder schwächer?
Putin ist immer noch stark, aber sein System hat sich verändert. Er wird immer mehr zum obersten Geiselnehmer Russlands. Er ist nicht mehr der Führer der Mittelklasse. Die einschneidende Veränderung war die Ermordung Jewgenij Prigoschins nach dessen Meuterei Das hat die Elite schockiert. Denn es war das erste Mal, dass Putin einen Deal mit einem Insider gebrochen hat . Außenstehende betrügt man ständig. Aber Insider müssen ein gewisses Maß an Vertrauen in den Anführer haben. So ist das bei jedem guten Mafia-Clan. Putin hat diese Grundregel der Mafia gebrochen. Heute ist die Elite deshalb sehr still und höflich. Aber es ist die Höflichkeit, die man gegenüber einer Person zeigt, die eine geladene Waffe hat und diese auch benutzt. Und nur weil Menschen nicht bereit sind, ihre Bedenken zu äußern, heißt das nicht, dass sie keine Bedenken haben. Bloß will niemand der Erste zu sein, der etwas unternimmt.
Prigoschin wollte doch einen Aufstand gegen Putin anzetteln?
Es gab aber keine wirklichen Überläufer zu ihm. Die meisten warteten ab, was passieren würde. Nicht nur die Sicherheitskräften. Auch die Politiker. Selbst Premierminister Mitchustin war sehr still, als würde er abwarten, wer nun gewinnt. Im Wesentlichen herrschen in Russland rücksichtslos pragmatische, egoistische Individuen. Für Putin hat das gut geklappt, solange er etwas zu verteilen hatte. Aber heute profitiert davon nur mehr eine sehr kleine Gruppe von Leuten, die Putin am nächsten stehen. Putin hat nur mehr die Angst der Menschen auf seiner Seite. Und solange jeder glaubt, dass die Person, mit der er spricht, am Ende ein Informant der Sicherheitsbehörden sei, kann keine Opposition entstehen.
Ist Russland also wieder dort, wo es zu Zeiten Stalins war?
Stalin hat die gesamte Elite periodisch zerstört und ersetzt. Damit niemand zu mächte wurde. Heute bist du Chef der Geheimpolizei, morgen im Gulag. Putin hingegen hält an Menschen fest, die wie er sind, die immer älter und in manchen Fällen immer schlechter werden. Aber er ist nicht bereit, sie zu ersetzen. Wenn man die Menschen um ihn herum ansieht: Das wird immer mehr eine Geritokratie. In diesem Punkt ist Putin eindeutig nicht Stalin.
Braucht Putin den Krieg in der Ukraine, um seine Herrschaft abzusichern?
Putin führt zwei Kriege. Den klassischen in der Ukraine mit Panzer und Raketen. Und den geopolitischen, zivilisatorischer Kampf mit dem Westen. Wenn er den ersten Krieg in der jetzigen Form einfrieren könnte, mit etwa 20 Prozent der Ukraine unter russischer Kontrolle, wäre das für Putin ein Erfolg.
Putin will nicht mehr erobern?
Der eigentliche Schießkrieg ist für ihn eine Schwäche, denn er wird eine weitere Mobilisierungswelle erfordern. Wenn die Russen sagen, dass sie genug Freiwillige bekommen, ist das Unsinn. Wenn sie in diesem Jahr eine größere Offensive starten wollen, brauchen sie eine weitere Mobilisierung. Aber das werden sie natürlich erst nach den Präsidentschaftswahlen bekannt geben, und das wird unpopulär und verstörend sein. Auch für die Wirtschaft, denn jeder neue Soldat, ist ein Arbeiter weniger in der Fabrik.
Den Krieg gegen den Westen hingegen kann er ohne Waffen führen?
Er braucht etwas, das wie ein Triumph aussieht. Es er braucht das Bild eines bösartigen Feindes, der angeblich die Russische Föderation zerschlagen will. Dagegen kann er alle im Land mobilisieren und aus Russland den Kriegsstaat machen, den er wirklich braucht. Das gibt ihm das perfekte Alibi für seine autoritäre und zentralistische Herrschaft.
Kann der Westen soziale Protestbewegungen in Russland unterstützen oder würde das nur Putin in die Hände spielen?
Das würde auf allle Fälle nach hinten losgehen. Wenn wir solche Bewegungen unterstützen, schieben wir sie ins Fadenkreuz des Kremls. Aber das heißt nicht, dass wir nichts tun können. Wir sollten uns an der Zeit des Kalten Krieges orientieren und uns auf das Wichtigste konzentrieren: Die Kontrolle des Kremls über den Informationsraum zu untergraben. Damals waren das das russische Service von BBC oder Radio Free Europe. Das brauchen wir wieder. Aber keine Propaganda! Eine Website wie „EU gegen Desinformation“ (www.euvsdisinfo.eu) versucht, russische Narrative in Frage zu stellen. Aber im Grunde ist das nur: Propaganda gegen Propaganda. Was müssen richtige, unabhängige Nachrichten senden. Wir müssen den Russinnen und Russen erzählen, was in ihrem Land passiert.
Kann die Bevölkerung in Russland denn diese Nachrichten empfangen?
Die Zuschauerzahlen der staatlichen TV-Nachrichten sind seit Kriegsbeginn zurückgegangen. Aber die Verbreitung von VPNs steigt. Natürlich wollen nicht alle Nachrichten aus dem Ausland konsumieren, sondern vor allem die neuesten Seifenopern oder Blockbuster-Filme Dennoch gibt es einen großen Wunsch, zu wissen, was wirklich vor sich geht. Die russische Zivilgesellschaft lebt, aber nur in sehr kleinen Räumen. Das sind Menschen, die etwas in ihrer Gemeinde tun wollen. Sei es die Unterstützung von Veteranen oder ein Umweltverbrechen verhindern. Sie brauchen den Austausch von Informationsaustausch, um die staatlichen Kontrolle zu umgehen. Dabei können wir helfen. Auch aus der Ferne tun.
Ist das alles, was wir derzeit tun können?
Wir sollten auch viel großzügiger sein, wenn es um Asyl für Russen geht, die offensichtlich mit dem Regime Konflikt geraten sind. Derzeit können solche Menschen kaum das Land verlassen, weil sie im Westen nicht aufgenommen werden. Im Grunde genommen geht es darum, dass wir ein Umfeld zu schaffen, in dem es für die Russen selbst ein bisschen einfacher wird, das Regime herauszufordern. Denn das können nicht wir für sie tun.