Die ukrainische Hafenstadt Odessa leidet besonders unter russischem Beschuss und Stromausfällen. Der Schweizer Bänz Margot versucht, den Ärmsten zu helfen – und erlebt die Angriffe hautnah mit.
Veröffentlicht in: Tagesanzeiger, 8. April 2024
Vom Hafen her sind dumpf die Schüsse der Flugabwehr zu hören. Doch in den Strassen der südukrainischen Stadt Odessa geht das Leben weiter. Alte Trams rumpeln über verbogene Schienen, werden von neuen mit getönten Scheiben überholt. Vor der riesigen Markthalle, dem «Priwos», heben Männer in Schiebermützen Schweinehälften von einem Lastwagen.
Unweit des Marktes blickt Bänz Margot in den regentrüben Himmel über der Stadt. Die dumpfen Schüsse sind verhallt. «Die ukrainische Flugabwehr hat wohl auf russische Drohnen geschossen», sagt er. Der 45-jährige Berner Kulturschaffende kam vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Odessa und lebt mit kurzen Unterbrechungen auch seit dem russischen Überfall hier. Einen so intensiven Angriff auf die Stadt mit Raketen und Drohnen wie in den vergangenen Tagen und Wochen, sagt er, «habe ich seit Kriegsbeginn nicht mehr erlebt».
Furcht vor dem Luftalarm
An diesem Dienstagmorgen Ende März fürchtet Bänz Margot jedoch weniger einen möglichen russischen Angriff als den ukrainischen Luftalarm. Denn schrille der nervenzerfetzende Dauerton der Sirenen über der Stadt, müssten alle in die nahe gelegenen Schutzräume. Und Margot müsste seine Hilfsaktion abblasen, auf die er sich lange vorbereitet hat.
Der Alarm bleibt an diesem Morgen jedoch aus. Zum Glück. So setzt sich Margot in ein zum Hilfszentrum umgebautes Café unter eine Schweizer Fahne und verteilt das, was die Menschen am meisten brauchen. Er verteilt Geld. Alte Frauen kommen, junge Mütter mit Kindern, Bewohnerinnen der Stadt und Geflüchtete aus den von Russland besetzten Regionen. Ihre Namen stehen auf Listen einer ukrainischen NGO, die mit dem Hilfsverein des Schweizers, Human Front Aid, zusammenarbeitet.
Die Bedürftigen zeigen ihre Ausweise, und Bänz Margot drückt ihnen Geldscheine in die Hand, umgerechnet zwischen 75 und 120 Franken pro Familie. «In dieser Stadt gibt es alles zu kaufen», sagt der Schweizer: «Wer jetzt als humanitäre Hilfe Reis, Kleider oder Babywindeln aus dem Ausland bringt, schadet damit nur der ukrainischen Wirtschaft.»
Schnelle Hilfe ohne Bürokratie
Rund zwei Milliarden Franken gab der Bund seit Kriegsbeginn bisher für die Ukrainehilfe aus. Der Grossteil des Geldes blieb jedoch in der Schweiz, als Hilfe für ukrainische Flüchtlinge. Aussenminister Ignazio Cassis wollte für die kommenden Jahre einen sechs Milliarden schweren Ukraine-Sonderfonds, doch der Plan scheiterte jüngst im Nationalrat. Wie es nun weitergehen soll, ist unklar.
Ebenso unklar ist, wie viel Hilfe private Organisationen leisten. Eine Gesamtaufstellung der Schweizer Hilfe gibt es nicht. Zwar sind IKRK, Caritas oder das evangelische Hilfswerk Heks in vielen Orten der Ukraine vertreten. Aber «je grösser die Organisation ist, desto grösser ist ihr bürokratischer Apparat», sagt Bänz Margot: «Und desto länger braucht die Hilfe, bis sie wirklich bei den Bedürftigen ankommt.»
In den ersten Kriegstagen im Februar 2022 war Odessa eine Stadt im Belagerungszustand. Doch der russische Angriff wurde hier von der ukrainischen Armee schnell zurückgeschlagen, und danach kehrte bald eine Art Normalität ein. Wobei: Normal war das Leben in Odessa auch vor dem Krieg nie wirklich. Die Stadt hatte den Ruf, ein Zentrum der Kriminalität, der Korruption und des Schwarzhandels zu sein.
Dass viele Prachtbauten aus dem 19. Jahrhundert jetzt ohne Fenster und mit eingestürztem Dach stehen, hat nichts mit russischem Beschuss zu tun, sondern mit lokaler Immobilienspekulation. Odessas Langzeitbürgermeister Gennadi Truchanow gilt auch als Kopf der lokalen Mafia. Mehrmals wurde er wegen des Vorwurfs der Korruption festgenommen, zuletzt im Sommer 2023. Stets kam er schnell wieder frei und übt weiterhin sein Amt aus.
Geld gibt es in dieser Stadt genug. Die Kinder der Neureichen hängen bis zur mitternächtlichen Ausgangssperre in den schicken Bars und Kaffeehäusern ab: in der «Wolke» im 9. Stock eines Bürohauses mit Blick über die Stadt oder in dem von einem Schweizer im 19. Jahrhundert gegründeten Café Fanconi.
Im Hafen von Odessa laufen wieder Frachtschiffe mit Weizen aus, und der nahe gelegene Strand ist wieder zugänglich, was viele Odessiten zu einem Spaziergang nutzen. Ungefährlich ist das nicht: Immer wieder spült ein hoher Wellengang Seeminen an den Strand. Erst kürzlich explodierte eine Mine. Zum Glück waren keine Menschen in der Nähe.
Drohnen über der Stadt
Nicht nur am Strand steigt die Gefahr. Seit Anfang März nehmen die Russen den gesamten Süden der Ukraine wieder ins Visier. Auch Odessa. Seither heulen fast jede Nacht die Sirenen des Luftalarms. Oft ist gleich darauf das Knallen der Flugabwehr zu hören und das Summen der russischen Drohnen über der Stadt. Noch bedrohlicher sind die Raketen, die von der nahen Krim oder von Flugzeugen abgeschossen werden. Sie sind so schnell, dass der Luftalarm erst nach dem Einschlag ausgelöst wird.
Mitte März traf eine russische Rakete vom Typ Iskander ein Haus nahe des Stadtzentrums. Als die Helfer an den Ort des Einschlags eilten, wurden sie Opfer eines besonders perfiden Doppelschlags. Eine zweite Rakete schlug kurz nach der ersten an derselben Stelle ein und tötete jene Menschen, die Erste Hilfe leisten wollten. 20 Personen starben, über 70 wurden verletzt.
Bänz Margot kam kurz nach dem Angriff an den Ort des Geschehens: «Ich sah die zerstörten Rettungswagen, die Toten und Verletzten. Überlebende sassen auf dem Boden und weinten. Wenn du die gigantische Zerstörungskraft so einer Rakete siehst – das macht sprachlos.»
Margot sieht den intensiven Beschuss als Vorzeichen für eine Offensive der Russen in diesem Frühjahr. Er habe «ein ganz schlechtes Gefühl», sagt der Schweizer. So sehen das auch die Bewohner der Stadt. Die Russen planen etwas, fürchtet Wiktoria Marinjuk, Lehrerin am Gymnasium Nummer eins. Odessa liegt nahe an der von Moldau abgespaltenen Region Transnistrien, die Ende Februar Russland um Hilfe ersuchte. «Wir fürchten, dass Putin diesen Hilferuf als Begründung für eine neue Offensive nimmt», sagt Marinjuk.
Auch wenn die Sirenen mittlerweile wieder zum Alltag in Odessa gehören, für die Menschen der Stadt bedeuten die ständigen Luftalarme eine enorme psychische Belastung. Viele Bewohner meiden zwar die Schutzkeller, selbst wenn der Telegram-Kanal «Odesa-Info» den Flug einer Rakete meldet. Sie ziehen sich in den Korridor oder ins Badezimmer ihrer Wohnungen zurück – in sicherer Entfernung zu den Fenstern, die auch durch die Druckwelle einer weit entfernten Explosion splittern können. «Die Angst vor einem Raketeneinschlag ist immer da, und sie macht uns sehr müde», sagt die Lehrerin Wiktoria Marinjuk.
Ein wichtiges Ziel der Russen ist derzeit wieder die Energieversorgung der Ukraine. Nachdem Raketen ein Umspannwerk in der Nähe getroffen hatten, brach in Odessa für mehrere Tage die Stromversorgung zusammen. Für die Hotels, Cafés und Supermärkte im Zentrum war das kein grosses Problem. Sie haben sich mit Generatoren ausgerüstet, manche so klein wie Rasenmäher, andere gross wie ein LKW. Sie stehen auf den Trottoirs, springen bei einem Blackout sofort an und hüllen die Stadt in Lärm und Dieselwolken.
Die Menschen wollen reden
Auch an jenem Tag, als der Berner Bänz Margot seine Hilfe in Form ukrainischer Geldscheine verteilt, fällt der Strom für mehrere Stunden aus. Zumindest die Energieversorgung für den öffentlichen Verkehr ist wiederhergestellt. So können jene Menschen kommen, die man im Zentrum selten sieht: ältere Frauen, die von ihren umgerechnet 80 Franken Rente nicht überleben können. Oder Flüchtlinge aus dem Osten der Ukraine, die in Odessa immer noch in Massenquartieren leben müssen.
Das Redebedürfnis dieser Menschen ist gross. Wenn Bänz Margot und sein Team ukrainischer Freiwilliger Geld verteilen, hören sie die Geschichten von Kindern, deren Mütter vor ihren Augen von russischen Soldaten vergewaltigt wurden und deren Väter spurlos verschwanden. Ein älteres Ehepaar kommt und erzählt, dass russische Soldaten seinen Sohn auf der Strasse aufgehalten und mitgenommen haben. Seither warten Mutter und Vater auf ein Lebenszeichen, obwohl die Russen ihnen erklärten, sie sollten sich keine Hoffnung machen.
Die NGO Human Front Aid hat etwa zehn freiwillige Helferinnen und Helfer, in der Ukraine und in der Schweiz. Die Spenden kommen von Privatpersonen. In Odessa hat Bänz Margot an diesem Tag kurz nach Mittag all sein Geld verteilt. «Die Bedürfnisse sind so gross hier», sagt er: «Ich wünschte, ich könnte zehnmal so viel geben.»
Ein warmer Wind vertreibt die letzten Regenwolken, am Nachmittag lockt die Sonne zahlreiche Besucher in die Strassencafés. Am Abend aber heulen wieder die Sirenen, und vom Hafen her sind die Schüsse der Flugabwehr zu hören. Es wird wieder eine unruhige Nacht in Odessa. Bänz Margot aber hofft, dass er doch ein wenig schlafen kann. Er habe in diesem Krieg etwas gelernt, sagt Margot: «Ich kann nur anderen helfen, wenn es mir halbwegs gut geht.»