Die Schweizer Schokoladenfirma will Kinder in Ghana von den Kakaoplantagen holen und ihnen den Schulbesuch ermöglichen – doch in einer Provinzschule weiss man nichts von dem Hilfsprogramm.
Veröffentlicht in: Tagesanzeiger, 19. 4. 2025

Der Schulleiter schaut auf die Liste, schüttelt den Kopf. Daniel? Nein, dieser Junge sei nicht in seiner Schule, sagt er dann. Auch James und Kofi nicht. Siebenmal sagt der Mann: Nein. Nur dreimal: «Ja, dieser Schüler ist bei uns.»
Die Szene ist vom Schweizer Dokumentarfilmer Philippe Stalder auf Video festgehalten worden. Die Schule steht aber nicht in Zürich, sondern viereinhalbtausend Kilometer entfernt in einer Gemeinde namens Bisakrom im westafrikanischen Staat Ghana. Und doch haben die abwesenden Schüler mit einem Schweizer Prestigeprodukt zu tun. Mit Schokolade. Genauer gesagt: mit dem Rohstoff Kakao.
1,5 Millionen Kinder auf den Kakaoplantagen
Wenn die Schweizerinnen und Schweizer im Supermarkt den bekannten Lindt-Goldhasen mit der Glocke kaufen, in der Basisversion oder der Glamour Edition, dann sollten sie sicher sein, dass die dafür verwendeten Kakaofrüchte nicht von Daniel, James oder Kofi gepflückt wurden. So sagt es der Konzern. Die Kinder hingegen sollten die Schule besuchen. Aber dort sind sie nicht.
Dass auf den Kakaofarmen auch Kinder arbeiten müssen, ist ein lange bekanntes, weitverbreitetes Problem. Laut einer Studie der Abteilung für internationale Arbeit des US-Arbeitsministeriums müssen über 1,5 Millionen Kinder auf den Kakaoplantagen Ghanas und der benachbarten Elfenbeinküste arbeiten. Die beiden Länder decken 60 Prozent des internationalen Kakaobedarfs.
Auch Lindt & Sprüngli bezieht über Zwischenhändler Kakao aus Ghana. Im Januar 2024 berichtete die «Rundschau» erstmals von verbotener Kinderarbeit auf Plantagen in Westghana, die Lindt & Sprüngli belieferten. Hat sich seither nichts verändert?
«Lindt & Sprüngli investiert gezielt in die Prävention von Kinderarbeit, die im Kakaoanbau leider ein strukturelles, systemisches Problem ist», sagt eine Mediensprecherin der Firma. «Wir versuchen, die Lebensbedingungen der Kakaobauern und ihrer Familien zu verbessern, um damit das Risiko von Kinderarbeit zu reduzieren.»
«Unter keinen Umständen Kinderarbeit zulassen»
Nach eigener Darstellung auf der Website ist Lindt & Sprüngli «einer der wenigen Schokoladenhersteller, der die vollständige Kontrolle über jeden Schritt der Produktionskette hat». Produkte wie der Goldhase stünden für Nachhaltigkeit, heisst es in der Beschreibung auf der Website. Durch das firmeneigene «Farming Program» würden Kakaobauern und Gemeinden vor Ort unterstützt.
In seinen Verhaltensregeln verpflichtet der Schweizer Konzern ausserdem seine Lieferanten, dass sie «unter keinen Umständen Kinderarbeit zulassen dürfen». Dass sich mit dieser Verhaltensregel allein das Problem der Kinderarbeit nicht gänzlich aus der Welt schaffen lässt, ist den Chocolatiers wohl auch bewusst. Sie haben einen eigenen Mechanismus für die Identifikation und Beseitigung von Kinderarbeit geschaffen. Firmenintern wird der Mechanismus als CLMRS bezeichnet – die Abkürzung für «Child Labor Monitoring and Remediation System».
«Gemeinsam mit unseren Lieferanten arbeiten wir kontinuierlich an der Optimierung des CLMRS-basierten Identifikationssystems», schreibt die Sprecherin von Lindt & Sprüngli dieser Redaktion. Die Firma investiere gezielt in die Prävention von Kinderarbeit. Klares Ziel sei, dass bis Ende 2025 in Ländern mit erhöhtem Risiko von Kinderarbeit «wir 100 Prozent des Kakaos von Bauern beziehen, die vom CLMRS abgedeckt sind».

Wie dieses System funktioniert, erklärt der Schweizer Konzern in einer Broschüre: Wenn Lieferanten auf den Plantagen Kinderarbeit entdecken, müssen sie die Kinder registrieren und Alternativen zur Plantagenarbeit anbieten: Schulbücher für den Heimunterricht. Oder den Schulbesuch. Die Namen der Kinder, ihr Aufenthaltsort und der Alternativplan müssen für Lindt & Sprüngli in Listen genau dokumentiert werden.
Eine solche Liste, erstellt vom französischen Kakaohändler Touton, bekam Dokumentarfilmer Stalder von einem Informanten zugespielt. Darauf die Namen von 700 Jungen und Mädchen, die dank Kinderarbeit-Bekämpfung nicht mehr auf den Plantagen arbeiten müssen, sondern Schulen besuchen können. Angeblich.
Das Absenzenbuch ist voller Kreuze
Stalder wollte das überprüfen und fuhr dafür mit dem Auto zehn Stunden aus der Hauptstadt Accra ins ghanaische Hinterland. Mit sich führte er eine Liste mit zehn Schülerinnen und Schülern, die laut dem Lindt-Lieferanten Touton die Schule in Bisakrom besuchten. Vor Ort fand er jedoch nur Hinweise auf drei Schüler.
Er sei seit zwölf Jahren an dieser Schule, sagt der Schulleiter Aboagye Dacosta in Stalders Video. Aber er habe noch nie jemanden von einer ausländischen Firma gesehen, der die Anwesenheit der Schüler kontrolliert hätte: «Wenn eine Firma behauptet, sie helfe den Kindern hier, dann stimmt das nicht», sagt Dacosta: «Die Realität ist so: Wenn die Erntesaison für Kakaofrüchte beginnt, nehmen die meisten Eltern ihre Kinder aus der Schule. Denn sie müssen bei der Ernte helfen.»
Zur Bestätigung zeigt Lehrer Amos Mensah das Absenzenheft. Jedes Kreuz neben einem Namen bedeutet: ein Tag Abwesenheit. Während der Kakaoernte ist das Buch voller Kreuze – auch bei den Kindern, die gemäss der Liste von Touton an Lindt & Sprüngli keine Kinderarbeit mehr verrichten.
Laut den von Lindt & Sprüngli aufgestellten Regeln müsste der Lieferant Touton überprüfen, ob die auf seiner Liste stehenden Schüler tatsächlich den Unterricht regelmässig besuchen. Im Fall der Schule in Bisakrom ist das offenbar nicht passiert. Ein Missgeschick?
Lieferanten dürfen Daten nicht teilen
Die Liste mit Kindernamen enthalte vertrauliche und persönliche Daten, «die Lieferanten aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht mit uns teilen dürfen», schreibt die Mediensprecherin von Lindt & Sprüngli. Die Prüfung dieser Daten sei somit nicht Teil des Verifizierungsprozesses.
Die konkreten Verdachtsfälle nehme man jedoch sehr ernst: «Entsprechend haben wir umgehend Kontakt mit unserem Lieferanten Touton aufgenommen, um diesen dezidiert nachzugehen», teilt Lindt & Sprüngli mit. «Sollten unsere Ansprüche seitens Lieferanten nicht vollständig erfüllt werden, initiieren wir umgehend Korrekturmassnahmen, um möglichen Missständen konsequent entgegenzuwirken.» Touton beantwortet die Fragen dieser Redaktion nicht.
Im Dokumentarfilm «Reclaiming Cocoa» beleuchtet Philippe Stalder die Schattenseiten des Kakaohandels zwischen Ghana und der Schweiz. Der Film geht dabei auch der Frage nach, inwiefern diese Lieferkette durch Schweizer Missionare in Ghana geprägt wurde.