Bulgarien sucht den Sündenbock

8. Mai 2013

Die Bulgaren wählen ein neues Parlament. Im Mittelpunkt des Wahlkampfs stehen Armut und Machtmissbrauch.

«Eigentlich ist es eine Sünde», sagt Petar Dobrew und zeigt auf ein mit Blumen geschmücktes Foto eines hübschen jungen Mannes mit krausen Haaren: «Aber ich kann ihn verstehen, ich habe auch schon an Selbstmord gedacht. Das Leben hier ist unerträglich.» Das improvisierte Mahnmal im Zentrum Sofias erinnert an Plamen Goranow, der sich im Februar aus Protest gegen einen korrupten Bürgermeister vor dem Rathaus der Stadt Warna selbst verbrannte. Sein Tod war der erste einer Reihe von Selbstverbrennungen in Bulgarien, bei denen mindestens vier Menschen ums Leben kamen.


Kundgebung der nationalistischen Partei Atka in Sofia gegen angebliche Okkupationspläne der Türkei. Foto: B. Odehnal

Zur selben Zeit gingen Zehntausende Bulgaren tagelang auf die Strassen von Sofia, Plowdiw, Burgas und anderen Städten, um gegen hohe Stromrechnungen und niedrige Löhne zu protestieren. Die Demonstrationen zwangen die Regierung von Premier Bojko Borisow zum Rücktritt und führten zu vorgezogenen Neuwahlen. Sie werden am kommenden Sonntag abgehalten. Goranow wird heute mit Mohamed Bouazizi verglichen, jenem tunesischen Strassenhändler, dessen Selbstverbrennung 2010 die tunesische Revolution auslöste.

Zeltlager des Protests

Bulgariens Protestbewegung überraschte in ihrem Ausmass und ihrer Wucht die heimische Politik und das Ausland. Sie brach aber so schnell in sich zusammen, wie sie entstanden war. Nach dem Rücktritt Borisows und der Vereidigung einer Übergangsregierung fehlte den Demonstranten der Gegner. Die meisten gingen nach Hause, einige kandidieren am Sonntag für Kleinparteien. Der letzte Rest des Protests sind das Mahnmal an Goranow in Sofia und die Zeltstadt rundherum. Zwischen zehn und fünfzig Menschen harren darin aus, Tag und Nacht. Sie haben Transparente aufgespannt, auf denen sie die Einheit des Volkes «für ein besseres Leben» fordern. Unter ihnen sind Nationalisten, die von Grossbulgarien träumen, und Arbeitslose, die ein Gespräch und eine warme Mahlzeit suchen.

Petar Dobrew studierte russische und bulgarische Philologie in Plowdiw. Zuletzt arbeitete er als Wachmann an der Universität. Doch von 320 Lewa, umgerechnet 200 Franken könne er nicht einmal alleine leben. «Und schon gar nicht meine Familie ernähren.» Er finde keine Arbeit, sagt Dobrew, denn die Unternehmen verlangten jetzt schon für die einfachsten Tätigkeiten mindestens drei Jahre Berufserfahrung.

150 Franken im Monat

Die Hitzewelle im Frühjahr hat die Themen Heizkosten und Stromrechnungen aus den Schlagzeilen verdrängt. Das Problem der Armut ist aber nicht kleiner geworden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent, Tendenz steigend. Ein Fünftel der Bulgaren gilt als arm und muss mit weniger als 150 Franken im Monat auskommen. Bulgariens Wirtschaft soll nächstes Jahr um rund ein Prozent wachsen. Das wäre im europäischen Vergleich nicht so schlecht, aber «es ist zu wenig für das wirtschaftliche Schlusslicht der EU», sagt der Politologe Dimitar Betschew. Die Krise sei ein guter Nährboden für Euroskeptiker und Nationalisten, «ausländische Investoren werden jetzt zu Sündenböcken gemacht». Vor allem der Mittelstand und die kleinen Händler seien von der Regierung enttäuscht, sagt Betschew: «Sie hat die verzögerte Rückzahlung der Mehrwertsteuer hart getroffen.» Von den Aufträgen der öffentlichen Hand profitierten hingegen nur Grossunternehmen.


Protestcamp im Zentrum Sofias. Foto: B. Odehnal

Im Zentrum Sofias ist von der Krise nichts zu spüren. Dort sitzen die Reichen und Schönen in den Cafés, ihre schwarzen Offroader parken auf dem Trottoir. Hier werden Businessmöglichkeiten ausgelotet, Geschäfte eingefädelt, Immobiliendeals geschlossen. Hier hat der ehemalige Regierungschef noch Anhänger. Borisow ist ein Aufsteiger wie sie, ein ehemaliger Leibwächter, der es zum Bürgermeister und Regierungschef brachte. Doch das Versprechen, das seine Partei Gerb im Namen führt (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), konnte er nicht einlösen.

Borisow trat 2010 als kompromissloser Kämpfer gegen die Korruption an. Jetzt sind er und seine Partei in einen Skandal um Machtmissbrauch und Kungelei verwickelt. Borisows Innenminister Tswetan Tswetanow liess jahrelang Ministerkollegen, Unternehmer und den Staatspräsidenten abhören. Der Spitzenkandidat von Gerb in Sofia, Wladislaw Goranow, glaubt, dass die Abhöraffäre seiner Partei nicht schaden werde. Die Bulgaren interessiere, wie die Regierung die Wirtschaft ankurbeln und die Einkommen steigern könne. Er hat eine Antwort: In den nächsten acht Jahren werde Bulgarien 20 Milliarden Franken aus EU-Fonds bekommen: «Das Geld ist garantiert, damit können wir arbeiten.»

Die Umfragen widersprechen Goranows Optimismus: Der Abhörskandal nützt den Sozialisten des Ex-Premiers Sergei Stanischew. Sie liegen Kopf an Kopf mit Gerb. Allerdings halten viele Wähler die Sozialisten für nicht weniger korrupt. Höchstens für besser organisiert und ein wenig geschickter als Gerb. Die Erfahrung habe die Bulgaren gelehrt, dass sie allen Parteien misstrauen sollten, sagt der Politologe Betschew.

Nationalisten als Königsmacher

Als weiteren Gewinner sehen die Umfragen die nationalistische Partei Ataka des Ex-Journalisten Wolen Siderow. Ataka hatte die Minderheitsregierung von Borisow still mitgetragen und verlor dabei so viel Unterstützung, dass ihr Ausscheiden aus dem Parlament sicher schien. Doch dann kamen die Demonstrationen gegen hohe Stromrechnungen, die Siderow geschickt nutzte. Ataka setzte sich an die Spitze der Protestbewegung und machte deren Ziele zu den eigenen. Die Umfragewerte stiegen rasant. Heute liegt die Partei bei sechs Prozent und könnte damit die Rolle des Königsmachers spielen. In ihrem Wahlkampf steht nicht die Bekämpfung der Armut, sondern die Hetze gegen Minderheiten und die Türkei im Zentrum.

Dimitar Betschew glaubt, dass Bulgarien ein langwieriges Feilschen um Regierungskoalitionen bevorsteht: «Uns drohen instabile Verhältnisse wie in Griechenland oder Italien.» Auch die Protestbewegung könnte wieder zum Leben erwachen. Dieser Meinung ist auch der arbeitslose Philologe Petar Dobrew. Die Politik solle sich nicht von den wenigen Zelten des Protestcamps im Zentrum Sofias täuschen lassen, sagt Dobrew: «Der nächste Winter wird noch höhere Stromrechnungen und noch mehr Armut bringen. Und dann gehen alle wieder auf die Strasse.»