Ein Leben voller Stürme

Migros-Magazin, 26. Mai 2014

Text: Michael West

Der Zürcher Guido Trüssel war Einbrecher, Sträfling und erfolgreicher Bauleiter im Nahen Osten. Vor zehn Jahren widmete ihm das Migros-Magazin eine Titelgeschichte, jetzt erscheint ein Buch über ihn.

Der Frühsommer vor zehn Jahren: Die Migros-­Zeitung «Brückenbauer» hatte sich verwandelt und erschien neu unter dem Namen «Migros-Magazin». Nun sollten auch die Redaktionsbüros am Zürcher Limmatplatz renoviert werden. Im Pressehaus hantierten Handwerker mit Farbrollen, Spachteln und Schleifmaschinen. Einer von ihnen war ein grauhaariger Mann mit wettergegerbtem Gesicht, altmodischer Pilotenbrille und auffälligen ­Tätowierungen auf den kräftigen ­Armen. Auf der gebräunten Haut war das verblasste Bild ­eines dreimastigen Segelschiffs zu erkennen. Eine andere Tätowierung ­zeigte ein vierblättriges Kleeblatt mit der Zahl 13 in der Mitte.

Redaktor Michael West (der Autor dieses Artikels) sprach ab und zu mit dem Maler und fragte ihn, wie er denn zu den vielen Tätowierungen gekommen sei. «Das Bild vom Schiff ­habe ich in Amsterdam machen lassen; das war in meiner Zeit als Seemann», sagte der Handwerker. «Und das vierblättrige Kleeblatt hier habe ich mir selber mit Tinte und drei Nähnadeln gestochen. Das war im Gefängnis.»

Der Mann, der damals 60 ­Jahre alt war, heisst Guido Trüssel. Er war in seinem Leben Heimkind, Seemann, Einbrecher, Sträfling und erfolgreicher Bauleiter im Nahen Osten. Aus der Geschichte des Zürchers wurde schliesslich ein Artikel, der im August 2004 im «Migros-Magazin» erschien. Zehn Jahre später bringt nun der Echtzeit Verlag ein Buch heraus, das Trüssels Erlebnisse viel ausführlicher nacherzählt. Der preisgekrönte Wiener «Tages-Anzeiger»-Korrespondent Bernhard Odehnal hat knapp ein Jahr lang Gespräche mit dem ehemaligen Matrosen geführt, er hat mit Trüssels Weggefährten geredet und seine fast unglaublichen Erlebnisse in alten Arbeitszeugnissen, Gerichts­akten und Zeitungsartikeln bestätigt gefunden. Das Buch trägt den passenden Titel «Die sieben Leben des Guido T.».

Furchtbare Erlebnisse im Kinderheim

«Die Arbeit am Buch hat mich manchmal belastet, mir aber auch gutgetan», erzählt Guido Trüssel heute. «Die Gespräche mit Bernhard Odehnal haben mir klargemacht, dass ich zwar oft hart gestürzt, aber auch immer wieder aufgestanden bin.» Belastend war, dass er dem Journalisten ausführlich von seiner unglücklichen Kindheit berichtete. Trüssel wuchs in Zürich Oerlikon auf. Sein Vater, ein Schneider, kam mit einer Tuberkulose aus dem Militärdienst zurück und musste sich in ­einem Sanatorium behandeln lassen. Die Mutter verdiente das Geld für die Familie, schuftete in einer Grossbäckerei und hatte nach den langen Arbeitstagen kaum Zeit und Kraft, sich um ihren Sohn zu kümmern. Der Bub kam mit acht Jahren in ein ­katholisches Kinderheim im Kanton Thurgau. «Die jungen Patres, die das Heim führten, waren ihrer Aufgabe überhaupt nicht gewachsen», erzählt Trüssel. «Sie hatten es mit rebellischen Kindern zu tun und reagierten auf Ungehorsam mit brutalen Strafen.» So wurde Trüssel manchmal von den ­Erziehern in ein fensterloses Matratzenlager oder in einen Kohlekeller gesperrt.

Vor allem aber wurde der Bub Opfer von sexuellen Übergriffen durch einen weltlichen Lehrer, der am Heim unterrichtete. Als er den Patres davon er­zählte, wollten sie ihm nicht glauben und nannten ihn einen Lügner. «Das war das Schlimmste: dass ich nach ­Hilfe suchte und auch noch dafür bestraft wurde», sagt Trüssel heute.

Als 15-Jähriger verliess er das Heim; er startete ohne Lehre ins Leben, half erst bei einem Bauern in Delsberg JU aus, arbeitete später kurze Zeit in der Betriebs­zentrale Genossenschaft Migros Zürich, wo er frühmorgens Gemüse­kisten in Camions lud. Doch die Schweiz war für Trüssel untrennbar mit den quälenden Erinnerungen ans Heim verbunden; er wollte die Vergangenheit möglichst weit hinter sich lassen, heuerte auf einem Schweizer Hochsee-Frachtschiff an. Zu Beginn war er Messeboy, schrubbte das Deck, klopfte Rost von Eisenteilen und bediente den ganzen Tag die Matrosen. Später arbeitete er sich selbst zum Matrosen hoch, wartete auf den Schiffen die Ladekräne und hielt Ausschau nach Nebelbänken und Anzeichen für einen Sturm. Sein grösstes Abenteuer erlebte er auf dem Schweizer Schiff «Cristallina». «Das war ein sehr kleiner Frachter, ­eine richtige Nussschale», erinnert sich Trüssel. Eines Tages geriet das Schiff vor der Küste von Guatemala in die Ausläufer eines Orkans. Zentnerschwere Fässer voller Zitronenkonzentrat, die auf Deck festgebunden waren, rissen sich los. Die «Cristallina» wäre fast gesunken.

Zurück in der Schweiz, verlor er den Boden unter den Füssen

Im Sturm hatte sich Trüssel bewährt und mitgeholfen, die wild gewordene Fracht zu bändigen. Doch als er nach vier Jahren auf See 1967 in die Schweiz zurückkehrte, verlor er den Boden unter den Füssen. Die Erinnerungen ans Kinderheim holten ihn ein; er hatte immer wieder das Gefühl, nichts wert zu sein. Der Matrose betäubte die Verzweiflung mit Alkohol. Er sass in Bars an der Zürcher Langstrasse, gab Runden aus, um bei den Stammgästen dazuzugehören.

Geld beschaffte sich Trüssel immer häufiger durch nächtliche Einbrüche in Geschäftshäuser. Er wurde Mitglied ­einer Bande, die eine clevere Strategie hatte: Eine Komplizin suchte in den Zeitungen nach Stelleninseraten, ­bewarb sich zum Schein um die ausgeschriebenen Jobs. Beim Vorstellungsgespräch hielt die Frau nach einem Tresor Ausschau. Nachts räumte die Bande das Geschäftshaus aus. Gewalttätig waren Trüssel und seine Kumpane nie – wenn bei ­ihren Einbrüchen zufällig jemand auftauchte, suchten sie sofort das Weite. Am Ende flog die Gruppe auf. «Einer der Kumpels ­prahlte auf einer Beizentour im Suff mit den Einbrüchen», erinnert sich Trüssel. «Das hat uns alle hinter Gitter gebracht.»

Der Matrose sass viereinhalb Jahre lang in den Strafanstalten Regensdorf ZH und Saxerriet SG. Im Steinbruch von Saxerriet lernte er, schwere Baumaschinen der Marke Caterpillar zu bedienen. Nach seiner Haftstrafe kehrte er 1976 aufs Meer zurück, verdiente sein Geld als Bootsmann auf einem japanischen Frachter namens «Blue Uranus», der Bauelemente nach Nigeria transportierte. Aus dem Material entstanden dort Gebäude für ein grosses Kulturfestival – ein Prestigeprojekt der damaligen nigerianischen Regierung. Weil sich Trüssel mit Caterpillar-Maschinen auskannte, durfte er einen Teil der Bauarbeiten überwachen. Es war der Anfang einer kurzen, aber erstaunlichen Karriere. Der Seemann wurde immer wieder als Bauleiter in Afrika und im Nahen Osten enga­giert. Am Ende war er 1981 gar mitverantwortlich für den Bau eines riesigen Marriott-Luxus­hotels in Kairo. 8000 Dollar verdiente er pro Monat.

In Kairo lernte Trüssel seine spätere Frau kennen, die Tochter ­eines ägyptischen Bierbrauers. Sie ­folgte ihm in die Schweiz, und die beiden blieben 33 ­Jahre lang ein Paar. Dabei musste die Ehe schwere Belastungen aushalten. Denn als Trüssel wieder in der Heimat war, wurde er von seinen alten Gefühlen der Wertlosigkeit eingeholt und kehrte zum Alkohol zurück. Vom Geld, das er im Nahen Osten verdient hatte, blieb bald nur noch wenig übrig. Der Seemann hielt sich in der Schweiz mit Handwerks­arbeiten über Wasser. Vom Alkohol kam Trüssel erst 1986 los. Er wurde betrunken am Steuer erwischt. Auf Anordnung eines Richters musste er eine Zeit lang regelmässig ­seine Leberwerte kontrollieren lassen. Der staatliche Zwang half: Trüssel wurde danach nie mehr rückfällig. So erklärt sich auch der Titel des alten Migros-­Magazin-Artikels: «Ein Seemann auf dem Trockenen».

Was ist seither passiert? Vor drei Jahren haben sich Trüssel und seine Frau getrennt. Sie hatte sich zuvor mehr und mehr einem traditionellen Islam zugewendet. Doch der Zürcher und die Ägypterin sind nicht im Streit auseinandergegangen, und sie telefonieren regelmässig miteinander. Die beiden verbindet der Stolz auf den gemeinsamen Sohn Sascha, der inzwischen 28 ist. Er ist gelernter Koch, hat die Matura nachgeholt und studiert nun Ernährungswissenschaft. «Er macht ­etwas aus sich», sagt der ehemalige Seemann und strahlt übers ganze Gesicht.

Guido wäre nicht Guido, wenn er nicht ein weiteres Mal aus der Schweiz geflohen wäre. Nach der Trennung von seiner Frau wollte er nach Paraguay auswandern, das er aus seiner Seefahrerzeit als Paradies in Erinnerung hatte. Er hoffte auch, dort besser von seiner kleinen Rente leben zu können. Tatsächlich reichte sein Geld, um in einem Vorort der Hauptstadt Asunción ein schönes Haus zu mieten. Doch Trüssel merkte rasch, dass er in einer Sackgasse gelandet war. «Der Ort war gepflegt, wirkte aber leblos», erzählt er. «Es gab dort ein paar pensionierte Schweizer und Österreicher, zu denen ich aber keinen Anschluss fand. Die sassen den ganzen Tag nur vor ihren Gartengrills, tranken Bier und schimpften über die Einheimischen.» Nach drei Monaten reiste er zurück.

Mit 70 Jahren arbeitet Trüssel noch immer als Handwerker

Heute lebt er in einer kleinen Wohnung in Zürich Oerlikon; die weisse Schäferhündin Ola leistet ihm Gesellschaft. Der inzwischen 70-jährige Mann wirkt fit und kräftig. Noch immer hilft er als Handwerker aus, um seine Rente aufzubessern. «Weil ich noch arbeite, kann ich mir den Hund leisten, meinen 25 Jahre alten Audi und meine GC-Saisonkarte.» Das vierblättrige Kleeblatt und die Zahl 13, die auf seinem Arm tätowiert sind, passen als Symbole perfekt zu Guido Trüssels Leben: Immer wieder hat er dem Unglück ein Stück Glück ab­getrotzt. Er selber sagt es so: «Die ­Arbeit am Buch hat mir gezeigt, dass ich eigentlich ein Erfolgsmensch bin. Schliesslich bin ich nie ganz untergegangen – trotz allem, was mir passiert ist.»

Bernhard Odehnal, «Die sieben Leben des Guido T.», Echtzeit Verlag 2014, Fr. 25.60 bei Ex Libris.