«Europa wird sehen: Im Grunde sind wir alle Schweizer»

27. Oktober 2012

Der österreichische Autor Robert Menasse fordert die Abschaffung der Nationalstaaten und die Helvetisierung der EU.

Mit Robert Menasse sprachen Luciano Ferrari und Bernhard Odehnal

Copyright: Michèle Pauty  / Paul Zsolnay Verlag

«Ich bin ein Fan der Krise», schreiben Sie in Ihrem Buch. Ist das zynisch gemeint?

Nicht ich bin der Zyniker, sondern die politischen Eliten sind es, die in einem nachnationalen Projekt wie der Europäischen Union jedes auftauchende Problem nationalisieren, einer einzelnen Nation in die Schuhe schieben und die Länder dann zu nationalen Kraftanstrengungen zwingen, die das Problem nur noch schlimmer machen. Die Krise aber schafft die Hoffnung, dass die EU-Staatschefs lernen: Kein europäisches Problem kann mehr national gelöst werden. Die Krise erzeugt den Druck, von nationalstaatlich diktierten Vorgaben zu gemeinschaftlichen Lösungen, also wirklich zu Europa zu kommen. In diesem Sinn bin ich froh um die Krise.

In Ihren Augen ist die deutsche Kanzlerin Angela Merkel das grösste Hindernis auf diesem Weg?

Das ist ein Missverständnis. Merkel ist für mich nur ein gutes Beispiel, um das Hauptproblem der Union darzustellen. Weil sie erstens den Führungsanspruch in der EU erhebt und ihn auch zugestanden bekommt. Und weil zweitens die Art und Weise, wie Merkel und der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy zu Beginn der Krise die Sache in die Hand genommen haben, aufschlussreich ist. Sarkozy und Merkel haben erst dafür gesorgt, dass die Schuldenkrise in Griechenland sich zu einer Existenzkrise der EU auswachsen konnte.

Wie denn das?

Europas Institutionen sind durch den Vertrag von Lissabon definiert: Wir haben ein demokratisch legitimiertes EU-Parlament, eine Kommission, einen Rat. Es gibt aber keine in der Verfassung beschriebene Institution mit dem Namen «Merkozy». Und ich bin als denkender Mensch und Demokrat dagegen, dass politisch nicht legitimierte Menschen oder selbst ernannte Institutionen über die Rahmenbedingungen meines Lebens bestimmen. Die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident wurden in fünfundzwanzig Mitgliedsstaaten der EU nicht gewählt.

Merkel kann doch nur den Führungsanspruch erheben, weil ihr das alle zugestehen. Warum mischen sich die anderen Staatschefs nicht stärker ein?

Die Forderung, dass sich Staatschefs mehr einmischen sollten, ist doch genau das Problem und der Grundwiderspruch in der Organisation der EU. Das europäische Projekt ist auf der Basis von historischen Erfahrungen ein nachnationales Projekt. Es geht nicht um Kompromisse zwischen nationalen Interessen. Und schon gar nicht um den Führungsanspruch einzelner Nationen.

EU heisst also: Überwindung der Nationalstaaten?

Genau. Man nennt die EU immer ein «Friedensprojekt». Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass die historischen Erfahrungen nach vier verheerenden europäischen Kriegen gezeigt hatten, dass eben Friedensverträge zwischen Nationen nicht das Papier wert waren, auf dem sie besiegelt wurden. Deshalb wollte man nach dem Zweiten Weltkrieg Frieden auf andere Weise herstellen - indem man den Nationalismus und damit am Ende auch den Nationalstaat überwinden wollte. Vor diesem Hintergrund ist es verrückt, dass man jetzt, in der grössten Krise der EU, den Vertretern der Nationalstaaten die Entscheidungshoheit für die gemeinsame Politik überträgt.

Was wäre die Alternative?

Die nachnationale Entwicklung ist heute irreversibel. Die Staaten sind so stark miteinander verflochten, dass kein Staat mehr ein Problem alleine lösen kann. Aber es hat mit dem EU-Vertrag von Lissabon eine Renationalisierung eingesetzt. Es wurde nicht nur das EU-Parlament, sondern auch der EU-Rat gestärkt und mit dem ständigen Ratspräsidenten sogar eine neue Instanz eingeführt. Seither werden nationale Interessen wieder stärker verteidigt.

Deshalb fordern Sie die Abschaffung des EU-Rats der Staats- und Regierungschefs. Aber es ist doch gerade der Rat, der weitere Kompetenzen und Souveränität der Nationalstaaten an die EU übertragen muss.

Als die Eurokrise begann, war jedem klar, dass sie ein Produkt der Widersprüche des Maastrichtvertrags war, die im Lissabonvertrag vor allem durch die Stärkung des Rats sogar noch verschärft wurden: Man hat sich zwar auf eine gemeinsame Währung geeinigt, aber alles, was dazu notwendig ist - eine gemeinsame Fiskalpolitik und Wirtschaftspolitik -, wurde von einigen Staaten wegen nationaler Egoismen boykottiert. Damit wurde die erste Währung seit Erfindung der Kaurimuschel in die Welt gesetzt, die keine politischen Instrumente zum Management der Währung hat. Die Kommission hatte Vorschläge ausgearbeitet, im Parlament hätte es dafür eine Mehrheit gegeben, aber sie kamen nie zur Abstimmung. Der Rat hat das verhindert. Die Vorschläge der Kommission heissen übrigens intern «Märtyrer-Papiere», weil sie vom Rat immer nur zerrissen wurden. Sie beweisen, dass wir uns die Krise hätten ersparen können. Die Verschuldung Griechenlands beträgt rund zwei Prozent des Bruttosozialprodukts der Europäischen Union. Hätte es eine gemeinsame Währungspolitik in Europa gegeben, wäre dieses Problem unterhalb der Wahrnehmungsschwelle geblieben. Der US-Bundesstaat Kalifornien ist viel höher verschuldet, aber niemand in den USA fordert, dass Kalifornien die Dollar-Zone verlassen müsse.

Nun macht der EU-Rat Fortschritte. Beim letzten Gipfel in Brüssel ging es gar nicht mehr um Griechenland, sondern um die gemeinsame Bankenaufsicht.

Da sehen Sie, dass ich recht habe. Im Lauf von drei Jahren haben die EU-Staatschefs gelernt, dass es so, wie sie sich das vorstellten, nicht geht. Jetzt setzen sie Schritt für Schritt die alten Forderungen der EU-Kommission um. Eine europäische Bankenaufsicht hat Merkel vor eineinhalb Jahren noch ausgeschlossen. Sie hat immer alles ausgeschlossen, was dann doch umgesetzt wird.

Was ist zu tun? Der EU-Rat wird sich nicht selbst abschaffen.

Das Problem ist: Alle Erfahrungen, die wir mit Demokratie haben, leiten sich von den Erfahrungen und Gewohnheiten ab, die wir mit nationalen Demokratien haben. Die EU aber ist ein nachnationales Projekt, das muss zu einem ganz anderen System führen. Ich verlange mehr politische Fantasie! Es geht heute um die Frage, wie etwas historisch völlig Neues, wie eine nachnationale Demokratie aussehen könnte. Diese Diskussion muss nun endlich geführt werden.

Wie könnte eine solch nach- nationale Demokratie aussehen?

Das europäische Projekt hat mehrere Vorgänger: die Habsburger Monarchie, Jugoslawien und die Schweiz. Vor allem die Schweiz ist historisch das Labor gewesen, in dem eine zukunftsweisende Versuchanordnung durchgespielt und in ihrem Funktionieren bestätigt wurde: Die Region ist die Basis der Demokratie, und nicht die Nation, Mehrsprachigkeit schafft Weltoffenheit und nicht Zerwürfnis. Die Schweiz hat bewiesen, dass kleine Einheiten sich in Rahmenbedingungen einer grösseren Einheit entfalten können. Genau darum geht es in Europa: garantierte Rechtsstaatlichkeit im Grossen, innerhalb derer die subsidiäre Demokratie in den Regionen gelebt wird. Dagegen kann selbst ein Nationalist nichts haben - vorausgesetzt, er schafft es, nachzudenken.

Für unseren angehenden Bundespräsidenten Ueli Maurer hat jeder, der jetzt noch in die EU will, nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Recht hat er. Die Schweiz hat sich mit bilateralen Verträgen alle Rosinen gesichert. Sie hat alles ausser dem Stimmrecht. Ein Beitritt der Schweiz in die EU der Krise würde nur einen Abbau historisch gewachsener demokratischer Rechte der Schweizer bringen. Wenn aber die Krise in der EU gelöst wird und sich die nachnationale Demokratie entfaltet, kann die Schweiz mit einem Beitritt ihre Expertise in das Europa der Regionen einbringen, und nicht nur gewinnen, sondern auch zum Gewinnen des europäischen Projekts beitragen. Die Schweiz muss jetzt Daumen drücken, dass die europäische Krise gelöst wird. Dann wird sie erkennen: Im Grunde besteht ganz Europa aus Kantonen. Und Europa wird sehen: Im Grunde sind wir alle Schweizer! Okay, ich schmeichle mich jetzt bei Schweizer Lesern ein, aber es stimmt doch: Die europäische Utopie ist ein Europa der Regionen.

Ist Ihr Buch ein Kassandraruf?

Nein, ich bin optimistisch: Alle wesentlichen Fortschritte seit den Römer Verträgen waren nur in Krisenzeiten möglich. In ruhigen Zeiten wurde administriert. Nur Krisen bringen Europa weiter.

Was droht uns, wenn das EU-Projekt scheitert?

Wir verlieren unser Leben. Punkt. Wir werden statt Lebenschancen Überlebenskämpfe haben, statt Wohlstand Bürgerkriege um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, statt dummer Politiker gemeingefährliche Demagogen, die den gemeinsamen Kontinent wieder in verfeindete Wir-Gruppen aufspalten. Wir werden statt Nachbarn Feinde haben. Wir werden nicht in einer Welt leben, sondern hinter dem Mond des Nationalismus - und wir werden uns furchtbar schämen müssen vor unseren eigenen Enkeln. Ich werde dann auswandern - in die Schweiz oder nach Lateinamerika.