«Wir Roma hassen Nicolae Romulus M. für das, was er uns angetan hat»

10. November 2007

Weil ein junger Rom in Italien unter Mordverdacht steht, müssen Tausende Roma vor dem Hass der Italiener flüchten. In Rumänien erwartet sie jedoch nur Hoffnungslosigkeit.

Von Bernhard Odehnal, Avrig

Romasiedlung in Avrig, Rumänien

Am Samstag, 3. November, gegen 21 Uhr verliess die 19-jährige Ana Acnana gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer dreijährigen Tochter Alexandra für immer ihre kleine Hütte aus Sperrholz im römischen Vorort Prima Porta. Mit einer einzigen Tasche in der Hand gingen sie zum Busbahnhof Tiburtina, wo sie auf dem Boden übernachteten. Gegen 6 Uhr früh stiegen sie in einen Car, der sie ins rumänische Sibiu (Hermannstadt) brachte. Von dort war es eine weitere Stunde Fahrt mit dem Minibus in ihren Heimatort Avrig, wo sie Montagmittag ankamen.

Acnana wollte nicht weg aus Italien. Seit zwei Jahren lebte sie in Rom in einer illegalen Siedlung, und obwohl es dort weder fliessend Wasser noch Strom gab, hätte sie es mindestens noch einmal so lange ausgehalten. Die Schwarzarbeit als Blumenbinderin brachte 800 Euro im Monat. Ihr Mann verdiente auf der Baustelle 600 Euro. Für rumänische Verhältnisse wären die beiden damit schon Mittelschicht gewesen. In Avrigs Glasfabrik hätte Acnana höchstens 150 Euro verdient.

Junge Römer kamen in die Siedlung

Aber seitdem Ende Oktober nahe der Siedlung Tor di Quinto eine 47-jährige Römerin ermordet und kurz darauf der 24-jährige rumänische Rom Nicolae Romulus M. als mutmasslicher Täter verhaftet wurde, wuchs die Angst unter den Rumänen von Prima Porta von Stunde zu Stunde. Und spätestens als junge Römer in die Siedlung kamen, die Roma als «Scheisszigeuner» beschimpften und die Hütten anzünden wollten, wusste die junge Frau mit den schwarzen, streng aus der Stirn frisierten Haaren, dass sie gehen musste. Acnana ist nicht nur Roma, sie stammt auch aus der gleichen Stadt und der gleichen Siedlung wie der mutmassliche Mörder M.

Avrig liegt in Siebenbürgen, etwa 30 Kilometer südöstlich der Kreishauptstadt Sibiu (Hermannstadt). Von den deutschen Ursprüngen der Kleinstadt zeugen eine romanische Wehrkirche und das Barockschloss des siebenbürgischen Gouverneurs Samuel von Brukenthal. Die Siebenbürger Sachsen sind freilich längst weggezogen, nur mehr 50 sollen noch in «Freck» (so der deutsche Name) leben. Von den 9000 Einwohnern sind heute fast 90 Prozent Rumänen und etwa 10 Prozent Roma.

Vom Wirtschaftsboom des nahen Sibiu profitieren die Menschen in Avrig nur bedingt - wenn sie einen mühsamen Arbeitsweg zu den neuen Fabriken auf sich nehmen, die jetzt im Speckgürtel rund um die europäische Kulturhauptstadt 2007 entstehen. Wer inAvrig bleibt, baut Mais an, fällt Bäume oder arbeitet in der Glasfabrik. Dennoch ist ein Hauch von Aufschwung spürbar: Die Hauptstrasse wird repariert, neue Abwasserrohre sind verlegt, ausländische Banken haben Filialen eröffnet

Nur im Romaquartier, das hinter der Glasfabrik in den Ausläufern des Fogarasch-Gebirges liegt, ist davon nichts zu merken. Hier versinken die Menschen bei Regen im Morast, die Hütten sind klein und finster, und in der Gasse am Ufer eines Wildbaches, den die Bewohner schlicht «Fluss» nennen, haben sie nicht einmal illegale Stromanschlüsse. Wer hier geht, sollte grosse Steine in der Hand haben, um die ausgehungerten, verwilderten Hunde zu verjagen.

In dieser Gasse lebten Nicolae Romulus M. und seine Familie. Sie seien gar keine richtigen Roma und würden weder die Sprache noch die Traditionen kennen, behauptet Florin Cioaba, der «König der Roma» in Sibiu, über M. und seine Eltern (siehe Interview). Das können die Roma in Avrig zwar nicht bestätigen, doch schon die Lage der heruntergekommenen elterlichen Hütte am Rande des Quartiers zeigt, dass diese Familie zu den ärmsten in der Roma-Gemeinschaft gehört. Mit Journalisten wollen sie nicht reden, der Schwiegervater schlägt die Tür zu. Er soll schon gedroht haben, italienischen Journalisten den Kopf abzureissen.

Die primitive Holzhütte, in der M. lebte, liegt am anderen Ende der Strasse. Sie ist verschlossen, seit der junge Rom vor einem halben Jahr nach Italien zog. In Avrighatte er keinen guten Ruf, er soll gestohlen und dafür eine Gefängnisstrafe verbüsst haben. Daniel Boldici, ein elfjähriger Rom aus der Nachbarschaft, zeigt den Besuchern gerne die Hütte, freilich nur von weitem. Er hat Angst vor M.s Schwester, die hier vor einigen Jahren von ihrem Mann auf bestialische Weise umgebracht wurde. Die Augen seien ihr ausgestochen, Gliedmassen abgehackt worden, heisst es im Dorf. Und der junge Rom ist sich sicher, dass die Ermordete «seither als Vampir in der Hütte haust».

Daniel ist ein aufgeweckter Junge, der gerne auf dem weissen Arbeitspferd seines Vaters reitet und gelegentlich auch zur Schule geht, wenn er nicht gerade verschläft. Er lebt im Haus neben der zurückgekehrten Ana Acnana, und auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass in seiner Familie niemand im Ausland arbeitet: Die Familie mit sechs Kindern lebt in einer Baracke auf höchstens 15 Quadratmetern das alte Haus sei vor drei Jahren abgebrannt, erklärt Vater Marin Boldici. Der Vater passt auf drei Kinder auf. Ein Rückenleiden, sagt er, mache ihn arbeitsunfähig. Seine Frau und die anderen drei Kinder ernähren die Familie mit Arbeiten als Tagelöhner.

Familie Acnana in Avrig

Nebenan hingegen ist das Haus nicht nur frisch verputzt, sondern gleich mit Landschafts- und Heiligenbildern bemalt. Die Küche hat einen Fliesenboden, es gibt neue Möbel und eine Espressomaschine. Es gibt noch einige Häuser in Avrigs Romasiedlung mit knallroten oder saftig grünen Fassaden. Neu erbaut oder gründlich restauriert wurden sie mit den Löhnen von italienischen Baustellen oder spanischen Ernteeinsätzen. Etwa 900 Bewohner hat die Romasiedlung, schätzt Acnana, «200 bis 300 davon waren in Italien». Die meisten kehrten in den vergangenen Tagen zurück, aus Angst vor Überfällen italienischer Hooligans oder der Verhaftung durch die Polizei. Der Traum vom besseren Leben ist für die Roma von Avrig vorerst ausgeträumt, und in jenem Bus, der Ana Acnana nach Rumänien zurückbrachte, waren sich alle einig: «Wir Roma hassen Nicolae Romulus M. für das, was er uns angetan hat.»

Nie das Kolosseum gesehen

Seither geht die junge Mutter mit ihrer Tochter an der Hand in den schlammigen Strassen des Romaquartiers spazieren und wartet, bis sich die Gemüter in Italien wieder beruhigt haben. In Rom ass die 19-Jährige zwei Jahre lang in einer Armenküche und trug von der Kirche gespendete Kleider. Sie war niemals im Zentrum der Stadt, hat nie das Forum Romanum und nie das Kolosseum gesehen.

Dennoch betrachtet sie Italien als ihre neue Heimat, in der Tochter Alexandra einmal zur Schule gehen soll, «damit sie mehr lernt als ich». Vielleicht schon im Dezember, vielleicht erst im Januar müsste die Rückkehr eigentlich möglich sein. Ihr italienischer Chef habe zuletzt sogar angeboten, sie anzumelden und in einem Wohnwagen unterzubringen. Acnana lehnte ab, die Angst war grösser. In Rom, meint sie, werde der Chef jetzt wohl die vielen Blumen alleine binden müssen: «Welcher Italiener würde für 40 Euro Tageslohn arbeiten?»

«Die Roma sollen Italien verlassen»

Florin Cioaba, der rumänische «König der Roma», wirft Italien vor, demokratische Grundregeln zu brechen und die Menschenrechte zu verletzen.

Mit Florin Cioaba sprach Bernhard Odehnal in Sibiu

Florin CioabaFlorin Cioaba ist ein so genannter «Bulibascha» (ein Anführer) der Roma im rumänischen Siebenbürgen. Von seinem Vater hat er den Titel «König der Roma» geerbt. Cioaba lebt in Sibiu (Hermannstadt). In der Nähe der Kreisstadt wuchs jener heute 24-jährige Rom auf, der vor zwei Wochen in einem römischen Vorort eine Frau ermordet haben soll.

Seit dem Mordfall in Rom sind rumänische Roma in Italien rassistischer Hetze und Gewalt ausgesetzt. Wie sollen sie reagieren?

Ich empfehle allen Roma in Italien, nach Rumänien zurückzukehren. Und ich appelliere an alle Roma in Rumänien, das Land nicht zu verlassen. Zumindest nicht in nächster Zeit. Die Lage ist beunruhigend.

Viele Roma leben schon seit mehreren Jahren in Italien. Was erwartet sie nach der Rückkehr?

Sie haben in Rumänien alles verkauft. Wenn sie zurückkehren, stehen sie vor dem Nichts. Aber das ist besser, als in Italien geschlagen oder ermordet zu werden. Die italienische Regierung unternimmt nichts, um sie zu schützen. Sie beschuldigt die Roma, Gesetze zu brechen, aber wenn sie Hunderte Menschen aus dem Land wirft, handelt sie viel radikaler. Leben wir denn nicht in einem vereinten Europa, in dem Gesetze respektiert und Menschenrechte geschützt werden?

Ist die harte italienische Reaktion nach dem brutalen Mord an einer Römerin nicht verständlich?

Der Mord war nur ein Vorwand für die Regierung, um ein Dekret gegen Emigranten zu beschliessen, das schon lange vorbereitet war. Sie erkennt, dass zu viele Einwanderer gekommen waren, und will nun den Arbeitsmarkt schützen. Die Roma waren gut genug, um den Müll der Römer und Neapolitaner wegzuführen. Jetzt haben sie ihre Schuldigkeit getan und sollen gehen.

Der mutmassliche Mörder ist doch ein Rom aus der Region Sibiu?

Er stammt von hier, aber er ist kein Rom. Sein Vater war ein Siebenbürger Sachse, der mit einer jungen Roma-Frau lebte. Das war keine Roma-Familie, sie kannten weder unsere Sprache noch die Traditionen. Als Kind lebte er im Heim und hatte nie eine Beziehung zur Roma-Gemeinschaft. Aber die Italiener haben ihn nach seiner dunklen Hautfarbe beurteilt. Und weil einer kriminell wurde, wollen sie nun Tausende Roma und Rumänen bestrafen. Das ist eine rassistische und fremdenfeindliche Politik, die in einer Demokratie nicht erlaubt sein sollte.