Atlantis an der Donau

16. Oktober 2012

Ungarns Hauptstadt Budapest verfällt mit beängstigender Geschwindigkeit.

Bernhard Odehnal, Budapest

«Kommen Sie nur herein, das wird Ihnen sicher gefallen: die beste Wohnung in meinem Portfolio!» Der junge Immobilienmakler ist entweder ein sehr guter Schauspieler oder von seinem Angebot tatsächlich überzeugt: «Ruhelage, top saniert, westlicher Standard», lobt er eine Wohnung, während er die Eingangstür aufschliesst: «So etwas finden Sie sonst nur in Wien oder Zürich.»

Ruhelage mag ja stimmen, obwohl es in einem Budapester Innenhof ziemlich laut werden kann. Die Top-Sanierung aber besteht aus einer Schicht Dispersion, die mehr schlecht als recht alte Schimmelflecken überdeckt. Die Fensterrahmen wurden nur innen gestrichen, eine Fensterscheibe ist geborsten. Die im Inserat angepriesene «Möblierung» besteht aus billigen Küchenkästen (Ikea, Jahrgang 1993) und einem Bett mit zerschlissenen Matratzen. Auf die Mühe, Stromleitungen und TV-Kabel unter dem Verputz zu verlegen, wurde verzichtet. Vermutlich, weil die Kabel ohnehin alle paar Monate erneuert werden müssen.

Aus seiner Sicht hat der Makler trotzdem recht. Im Vergleich zu allem anderen, was er anbieten kann, ist es wahrer Luxus. Die Bandbreite der Scheusslichkeiten ist unendlich. Es gibt Wohnungen mit Wasserschäden, Wohnungen wie Gefängniszellen, Wohnungen als Müllhalden.

Wer dieser Tage durch Budapest wandert, bekommt den Eindruck, dass die halbe Stadt zu kaufen oder mieten wäre. Überall hängen grosse Schilder: «Kiado» (zu vermieten) oder «Elado» (zu verkaufen). Wer einen Blick in die Gebäude wirft, begreift schnell, warum sich so wenige Interessenten finden. Die Wohnungen sind düster, vollgestopft mit billigen Möbeln aus den 70er-Jahren, die Häuser sind in katastrophalem Zustand, die Leitungen rostig, der Verputz nurmehr rudimentär vorhanden. In den alten Häusern aus der Gründerzeit steigt die Feuchtigkeit bis in die oberen Stockwerke. Die Einschusslöcher in den Fassaden könnten von der Revolution von 1956 stammen, vielleicht aber auch schon vom Beschuss der Stadt durch die Rote Armee im Jahr 1945.

Ja, gibt der Makler zu, der Markt sei sehr schwierig geworden. Seine Kunden sind Geschäftsleute oder Studenten aus Deutschland und den USA, die sich hier an einer internationalen Hochschule eingeschrieben haben. «Die Ungarn verkaufen nurmehr», sagt der Mann. Niemand hat noch das Geld, um in die Sanierung von Häusern und Wohnungen zu investieren.

Dabei geht es den Immobilien nicht besser als der städtischen Infrastruktur. Die Trolleybusse bestehen mehr aus Rost als aus Stahl und fahren wohl nur noch aus purer Angst vor den Fusstritten ihrer rabiaten Fahrer. Die U-Bahn-Züge sind sowjetische Produkte der 50er-Jahre, durch die schlecht beleuchteten Wagen weht noch der Zeitgeist des Stalinismus. Russisch ist auch die Beheizung vieler Wohnungen mit Fernwärme: Die schweren alten Radiatoren können nicht reguliert werden und heizen von Oktober bis April durch. Die Raumtemperatur kann nur durch Öffnen und Schliessen der Fenster verändert werden.

Mit seinen prachtvollen Palais, Boulevards und Donaubrücken vermittelt Budapest noch immer den Glanz einer längst vergangenen Zeit. Aber die Stadt steht nur noch aus Gewohnheit. Möglicherweise wird sie an einem dieser trüben Herbstnachmittage einfach versinken, wie das sagenumwobene Atlantis.

Schlimmer kommt es nur noch, wenn die 23 lokalen Bürgermeister ihre Bezirke verschönern wollen. So wie im alten jüdischen Quartier, bei der Sanierung der Kiraly utca (Königsgasse). Drei Jahre dauerten die Umbauarbeiten zur Flaniermeile, dieses Frühjahr wurden sie abgeschlossen. Seither versperren klobige Pflanzentröge die Trottoirs, und im Strassenpflaster klaffen bereits wieder riesige Löcher. Nach dem nächsten Frost dürfte die Strasse wieder so aussehen wie nach dem Häuserkampf 1956. Nur dieses Mal ganz ohne Revolution.