Bei den Menschen im Wassertal

10. Mai 2006

Weder der Kommunismus noch die Modernisierung haben auf die störrischen Menschen der Region Maramures richtig Eindruck gemacht. Ein Bericht wie aus einer anderen Welt.

Von Sibylle Hamann und Bernhard Odehnal

Es wird schon dunkel in Viseu de Sus. Aus dem Fluss steigt die Feuchtigkeit herauf, aus den Wäldern am Berghang kommt der kühle Wind herunter. Die Hühner schlafen schon, die Katzen streunen noch durch den Hof. Da bricht plötzlich das Geschrei los

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Es kommt vom Flussufer. Drei Fuhrwerke stehen da, mit erschöpften, schwer atmenden Pferden, jeweils zwei an einer Deichsel. Ihre Wagen sind beladen mit Baumstämmen, die sie eben vom Berg herunter und hier durch die Furt geschleppt haben. Es sind kräftige, wohl genährte Tiere mit glänzendem Fell. Die halten was aus. Aber der Fluss ist reissend dieser Tage, in denen oben am Berg der Schnee schmilzt. Nicht alle haben es geschafft. Ein Fuhrwerk steckt fest, in der Mitte der Strömung, die Pferde stehen bis zum Bauch im Wasser und haben keine Kraft mehr, um Schwung zu nehmen und es damit ans Ufer zu schaffen.

Dramatik in reissendem Wasser

Jetzt kommen die Holzknechte, muskulöse junge Männer in hohen Gummistiefeln. Sie waten durch das kalte Wasser, zerren mit aller Kraft an den Deichseln, schieben, brüllen, knallen mit den Peitschen. Endlich schaffen sie es, die müden Tiere mitten im Fluss zu wechseln, die kräftigsten anzuspannen, und poltern unter Aufbietung der letzten Reserven die Böschung herauf. Alle sind triefend nass, und jeder andere würde sich erschöpft ins Gras fallen lassen. Aber die Burschen zucken bloss kurz mit den Achseln, schwingen sich behände auf die Holzstösse, stecken sich Zigaretten an - und fahren weiter, als sei das alles ganz normal.

Es ist alles ganz normal. Am nächsten Tag, etwa um dieselbe Zeit, werden sie wieder durch die Furt kommen, poltern, zerren und brüllen. Es ist ihr Job. So malerisch es auch anzusehen ist - das Landleben in Maramures ist hart.

Viseu de Sus ist eine beschauliche Kleinstadt am Eingang des Vaser-Tals. Es gibt nur eine einzige Brücke für Autos. Der Rest des Verkehrs und der Geschäfte wird zu Fuss erledigt - über fragile Hängebrücken hinweg: Zwei Drahtseile zum Festhalten, im Wind schaukelt es bedrohlich, und immer wieder sind ein paar Bretter morsch. Aber das schreckt nicht einmal die Schulkinder, die sich jeden Tag flink über die Lücken hinüberhanteln. Das einzige Problem, sagen die Leute, seien die Betrunkenen. Schon öfter mal ist einer in finsterer Nacht ins Wasser gefallen.

Das Land der «Deitschen»

Es ist kein Zufall, dass das Vaser-Tal nach dem deutschen Wort Wasser klingt. Es waren Deutsche, die ihm diesen Namen gaben: Wassertal. Sie kamen hierher, in die grünen Hügel im Norden Rumäniens, weil es da Land und Arbeit gab. Im 18. Jahrhundert wurden die Zipser in Maramures angesiedelt, eine deutsche Minderheit aus der heutigen Ostslowakei. Kurz danach kamen jene, die man bis heute «die Deitschen» nennt: landlose Bauern aus Oberösterreich, denen Kaiserin Maria Theresia hier Land und Lohn versprach. Sie teilten sich die Städte mit chassidischen Juden, die aus Russland und der Ukraine eingewandert waren und von deren Kultur heute nur mehr der jüdische Friedhof auf einem Südhang oberhalb Viseus zeugt. Rumänen gab es auch, sie lebten in kleinen Dörfern und Einzelhöfen.

Bis heute haben sich Reste der deutschen Vergangenheit gehalten. Deutsch ist nicht wirklich eine Fremdsprache - viele verstehen zumindest ein paar Brocken davon. Einige haben Verwandte, denen mit dem Nachweis deutscher Vorfahren die Auswanderung nach Deutschland gelang. Im deutschen Kulturverein im Zentrum der Stadt werden ab und zu deutschsprachige Filme gezeigt. Viseu de Sus hat hier noch den alten deutschen Namen: Oberwischau.

Tal ohne Strasse, Bahn mit Reiz

Was die Zuwanderer damals anlockte, war das Holz - und das Holz ist bis heute die Lebensgrundlage dieser Region in den Karpaten. Es steht an den Flussufern im wildromantischen Wassertal, in das keine Strasse führt. Jahrhundertelang wurden die mächtigen Stämme im Fluss herunter ins Tal geflösst, 1925 baute man die schmalspurige Bahnstrecke, die den Transport von Menschen, Bäumen und Material wesentlich erleichterte. Die Bahn fährt bis heute, teilweise sogar noch mit Dampflokomotiven. Wenn sich Touristen nach Viseu de Sus verirren, dann deswegen.

Obwohl: Eine wirklich professionell vermarktete Touristenattraktion ist die Waldbahn noch nicht. Der Abfahrtsbahnhof in Viseu de Sus liegt versteckt hinter dem Sägewerk. Eine grosse weisse Hündin hat zwei Junge geworfen und versteckt sie in der Erdkuhle unter dem Weichenstellhebel. Die Vögel zwitschern, eine alte Bäuerin in durchlöcherten Gummigaloschen lässt von morgens bis abends ihre zwei Ziegen zwischen den Gleisen grasen, ab und zu fährt ein Zug ab.

Die Holzarbeiter sind, wenn die ersten Touristen kommen, schon lange oben im Tal. Montags um sechs Uhr früh stehen sie am Bahndamm, Plastiktaschen in den schwieligen Händen und die Motorsäge ans Knie gelehnt. Jene, die ganz nach oben fahren, 40 Kilometer weit bis zur Holzfällersiedlung Faina, werden die ganze Woche dort oben in Baracken schlafen. Die Bahn braucht über drei Stunden für die Strecke, da lohnt sich tägliches Pendeln nicht.


Holztransport durch eine Furt der Vaser

Der kleine Kiosk, der schon vor der Morgendämmerung öffnet, verkauft, was die Männer brauchen werden: Speck, Brot und Zigaretten. Sie müssen sich selbst versorgen, denn die kleinen Dörfer oben im Tal sind seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt. Wenn die Holzfäller am Samstagmittag hier wieder aussteigen, nach fünf Tagen harter Arbeit im Wald, wird im Kiosk Hochbetrieb herrschen. Dann gibt es Schnaps und Bier, bis spät in die Nacht.

Schwitzen und frieren zugleich

Loici Ivanciuc ist der Lokomotivführer. Er ist noch oben im Tal geboren, als neben der Bahnstation noch ein paar Bauern wohnten. Jetzt wohnt er in Viseu, aber er ist nie losgekommen von diesen Bahngleisen, und er kennt die Strecke in- und auswendig.

Seit ein paar Monaten macht ihm die Arbeit wieder mehr Spass: Da kam die alte Dampflokomotive aus dem Museum, repariert und frisch lackiert. Sie wird nun an Stelle der Dieselloks eingesetzt, den Touristen zuliebe. Loicis Heizer Vasile Barsan poliert jeden Tag die Lampen, prüft die Achslager, schmiert, wo es notwendig ist, und lässt grüssend den Dampf ab, wenn er am Balkon seines eigenen Hauses vorbeifährt.

Das schaut aus wie im Bilderbuch, aber es ist ein Beruf, in dem man nicht alt wird. Im Führerstand ist es unerträglich heiss, der Rauch beisst in den Augen, im Winter schwitzt und friert man gleichzeitig. Den Bremsern geht es nicht viel besser. In der Abenddämmerung, wenn die voll beladenen Waggons mit den schweren Stämmen aus dem Tal herunterkommen, stehen sie auf den Waggons, bei jedem Wetter, und müssen aufpassen, dass es nicht zu schnell bergab geht. Es ist nicht leicht, so eine Arbeit durchzuhalten, ohne dem Schnaps oder dem Schlendrian zu verfallen. Doch das ist hier lebensgefährlich.

Brütende Omas

So gesehen, ist Maramures eine Zeitreise in die Vergangenheit des Landlebens. Die Gegend war immer zu abgelegen, als dass sie strategischen Wert gehabt hätte; so entging das störrische, ethnisch durchmischte Bergvolk dem Kahlschlag der Modernisierung ebenso wie der Zwangskollektivierung unter den Kommunisten. Die kleinen Bauernhöfe sind weit gehend Selbstversorger: Hinter dem Haus ein Gemüsegarten, die Obstbäume werden vor allem zum Schnapsbrennen gebraucht. Auf der Wiese weiden ein paar Ziegen, im Stall steht eine Kuh, in einem Verschlag ein Schwein, das die Reste vom Mittagessen kriegt, und wenn die Hühner brüten, dann nimmt die Oma die Nester in ihr Zimmer und hält sie neben ihrem Bett am Holzofen warm.

Kaum Maschinen, kaum Fahrzeuge, viel Handarbeit, vom Holzhacken bis zum Wäschewaschen: sonntags ist Kirche, donnerstags ist Markt. Morgens kräht der Hahn, am frühen Abend sitzt man vor dem Haus und schaut, wer vorbeigeht, und später sinkt man, von der Bergluft ermattet, in tiefen Schlaf. Es ist ein vordergründig idyllisches Leben. Aber wer mehr als einen flüchtigen Blick hineinwirft, kann ahnen, dass es hart ist.