Berge der Verschwiegenheit

14. Juli 2018

 

Ein österreichischer Autor versucht verzweifelt, den Kanton Graubünden und seine Menschen zu verstehen. Das ist auch für ein Schweizer Publikum lesenswert.

So viele Superlative auf so kleinem Raum. Der grösste, der gebirgigste, der am dünnsten besiedelte Kanton der Schweiz ist Graubünden. Hier ragen nicht nur die meisten Gipfel über 3000 Meter in den Himmel, hier soll sich auch die höchste ständig bewohnte Siedlung Europas, das älteste Weingut Europas, der älteste prähistorische Felssturz der Welt befinden.


«Hundefresser» und «Kuhwürger»: Die Dörfer im Unterengadin haben seltsame Spitznamen. Foto: B. Odehnal

Stimmt das alles? Der Schriftsteller Martin Leidenfrost wollte dies überprüfen und hat dazu den Kanton von Samnaun im Osten bis Calanca im Westen, vom Puschlav im Süden bis zur Bündner Herrschaft im Norden bereist. Und er entdeckte dabei einen Superlativ, der in keinem Reiseführer festgehalten ist: «Auf meinen Reisen durch Europa ist mir keine Region untergekommen, in der so ungeniert mit Rekorden geprahlt wird wie in Graubünden.»

Zerklüftetes Land

Der 45-jährige Leidenfrost kennt Europa sehr gut. Für seine Kolumnen «Die Welt hinter Wien» reiste der Österreicher in slowakische Romaghettos und tschechische Grenzbordelle. Für die Kolumnenserie «Brüssel zartherb» studierte er das Innenleben der europäischen Machtzentrale. Dass seine ironischen, aber auch empathischen Beobachtungen mit Preisen ausgezeichnet wurden, war wohl ein Grund, warum die «Südostschweiz» ihn einlud, den Kanton zu erforschen und die Ergebnisse zu veröffentlichen.

Der Wiener Picus-Verlag hat nun die elf Texte als Buch herausgebracht. «Lesereise Graubünden» steht auf dem Cover; der schönere Titel verbirgt sich im Inneren: «Bündner Wirren» fast die Erkenntnisse zusammen. Dieses zerklüftete Land, das durch den Zusammenschluss vormals verfeindeter Bünde entstanden war, ist für ihn vor allem verwirrend: die Topografie, der «konfessionelle Flickenteppich», die Sprachen und Idiome und vor allem die Menschen, die so wenig von sich und ihrer Heimat preisgeben wollen. «Die Komplexität Graubündens kann einen um den Verstand bringen.» Sein rhetorisch brillantes Bemühen, etwas Klarheit in diese Komplexität zu bringen und gängige Mythen zu hinterfragen, macht das Buch auch für ein Schweizer Publikum lesenswert.

Jedes Kapitel hat einen Schwerpunkt, und allen Kapiteln ist ein Grundton gemeinsam: die Unzugänglichkeit der Einheimischen, die schwer zu begeistern, aber leicht zu beleidigen seien. Die Reportagen entstanden einige Zeit bevor das Bündner Baukartell publik wurde. Wenn man Leidenfrosts Blick folgt, kann man besser verstehen, wie es zu diesem jahrelangen Bund des Schweigens und Kungelns kommen konnte. Der Autor begibt sich tief in ein Land, das Fremden gegenüber skeptisch ist. Wer Fragen stellt, ob zur kleinen Minderheit der Jenischen, zu den Walsern oder zum Wirken von Christoph Blocher, wird schnell zurechtgewiesen oder mit Nichtbeachtung bestraft.

Dabei versucht Leidenfrost alles, um das Land und seine Menschen zu verstehen. Er lernt etwas Surselvisch, die meistgesprochene rätoromanische Sprache. Er studiert die Bündner Geschichte, und er weiss, welches Tal katholisch und welches reformiert war und wann die Gemeinden ihre Konfessionen tauschten. Besonders die religiösen und ethnischen Minderheiten faszinieren ihn. Das war auch bei seinen vorherigen Expeditionen in Europa so. Aber nirgends sonst auf dem Kontinent hat er einen Landstrich gefunden, «in dem jedes Dorf anders ist. Nicht einmal das südliche Bessarabien reicht so richtig an Graubünden heran.»

Spitznamen für Dörfer

Leidenfrost erkundet nicht die touristischen Regionen: Davos, St. Moritz oder die Viamala-Schlucht interessieren ihn nur mässig. Er fragt lieber nach Dingen und Geschichten, die selbst Einheimischen kaum bekannt sein dürften. Zum Beispiel, woher Schimpfnamen wie «Hundefresser», «Kuhwürger», «Schweine» oder «Zigeuner» für die Dörfer des Unterengadins kommen. Oder wie weit die Gemeindeautonomie in einem vom Föderalismus geradezu besessenen Kanton gehen kann. «Ich kenne keine Region in Europa, die auf eine derart anarchische Geschichte lokaler Unabhängigkeit verweisen könnte.»

Ganz lösen kann der Autor die selbst gestellten Aufgaben nicht: Manche Spitznamen im Unterengadin finden Erklärungen in alten Geschichten. Weil die Bauern in Lavin eine Kuh durch starken Zug am Strick erwürgten, werden sie «Stranglavachas» (Kuhwürger) genannt. Warum aber die Scuoler «Schweine» heissen, die Tschliner «Zigeuner» oder die Zernezer «Hundefresser», das bleibt mysteriös. Wirklich gescheitert ist Leidenfrost beim Versuch, das Phänomen Christoph Blocher anhand seiner Ems-Chemie und des Verhältnisses zur «Bündner Arbeiterbewegung» zu erklären. Über Blocher will nämlich niemand sprechen. Nicht die Werksleitung, nicht die Arbeiter, nicht die Betriebskommission, auch nicht die Gewerkschaften. Bleiern liegt der Mantel des Schweigens über Domat/Ems. Selbst beim russischen Staatskonzern Gazprom sei er leichter ins Gespräch gekommen, wundert sich der Autor über die «Domater Omertá».

Martin Leidenfrost Lesereise Graubünden, Bündner Wirren.

Picus-Verlag, Wien 2018. 132 S., ca. 22 Fr.