Billett in den Jihad

27. Mai 2015

In Österreich wurde ein 14-Jähriger verurteilt. Er hatte den Wiener Westbahnhof sprengen wollen. 

Es war ein kurzer Prozess. Nach drei Stunden sprachen die Richter Mertkan G. schuldig: Er habe ein Sprengstoff­attentat auf einen Bahnhof geplant und sich dem Islamischen Staat anschliessen wollen. Der 14-Jährige wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, acht Monate davon unbedingt. Fünf Monate sass der Verurteilte schon in Untersuchungshaft. 

Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig: Die Staatsanwaltschaft bat um drei Tage Bedenkzeit, da sie die Strafe als zu gering betrachtet. Der Angeklagte zeige weder Reue noch Schuldbewusstsein. Verteidiger Rudolf Mayer präsentierte seinen Mandanten hingegen als Opfer: des Westens, dessen Nahostpolitik erst die al-Qaida und den Islamischen Staat gross werden liessen, und der österreichischen Politik, die Jugendliche wie Mertkan auf der Strasse stehen lasse. 

Ob und wie sehr Mertkan seine Pläne tatsächlich bereut, bleibt nach dem Verfahren offen. Zum Schutz des Minderjährigen wurde die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Nur die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger sowie die Urteilsverkündung waren öffentlich. 

Mertkan kam vor acht Jahren aus Istanbul nach Wien. Seine Eltern, kurdische Aleviten, ersuchten in Österreich um Asyl. Als dem Vater nach der Scheidung die Ausschaffung drohte, verliess er das Land freiwillig. Seither musste sich Mertkan um seine Schwester und die kaum Deutsch sprechende Mutter kümmern. In seiner neuen Heimatstadt St. Pölten fand er Freunde, aber die Wege trennten sich: Die Freunde besuchten eine Hauptschule, Mertkan musste auf die Sonderschule. Sein Deutsch war nicht gut genug. 

IS-Videos aus dem Internet 

Der Staatsanwalt sieht in dieser Herabsetzung den ersten Schritt zur Radika­lisierung: Mertkan fehlte die Halt ­gebende Vaterfigur, und er habe nach Anerkennung gesucht. Im Sommer 2014 begann der Junge, im Internet die Propagandavideos des IS zu studieren. Verteidiger Mayer erwähnt auch einen Religionslehrer, der Aleviten als «Ungläubige» beschimpft und aus Mertkan einen Sunniten gemacht habe. Der Staatsanwalt erwähnt diesen Lehrer nicht und bleibt auch sonst auffallend vage, als würde er sich lieber nicht allzu genau mit diesem Thema beschäftigen wollen: Mertkan habe von Moscheen erfahren, die Kämpfer für Syrien rekrutierten. Wie das geschah und wo sich diese Moscheen befinden, sagt die Staatsanwaltschaft nicht. Danach soll Mertkan im Internet einen Mann mit dem Pseudonym «Al Qaida» kontaktiert haben. Mehr ist nicht zu erfahren. 

Fest steht, dass Mertkan zu dieser Zeit Bombenbauanleitungen aus dem Internet herunterlud und sich mit der Umgebung des Wiener Westbahnhofs vertraut machte. Das fiel auch dem Verfassungsschutz auf, der ihn im vergangenen Oktober verhörte und verhaftete. Der Junge gab zu, dass er eine Rohrbombe bauen und sie im Bahnhof explodieren lassen wollte. Das Attentat sollte sein Billett in den Jihad werden. 

Trotz des Geständnisses wurde Mertkan aus der Untersuchungshaft entlassen. Anfang Januar tauchte er unter, wurde aber nach ein paar Tagen in Wien aufgegriffen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er habe seine Ausreise nach Syrien geplant und einen zwölfjährigen Freund überreden wollen, ihn zu begleiten. Seine Bewährungshelfer glauben hingegen, dass Mertkan ohne Plan handelte und zuletzt nur nach Hause wollte. In den folgenden Monaten in ­Untersuchungshaft soll er durch lange Gespräche unter anderem mit dem Vorsitzenden der Islamischen Gemeinde St. Pölten vom Fanatismus abgebracht worden sein. «Er fühlt sich schuldig und sieht ein, dass man alles im Leben hinterfragen muss», sagt sein Verteidiger. 

«Tausende kommen nach» 

Erklärungen, wie Deradikalisierung innert weniger Monate funktionieren kann, wären für künftige Verfahren von grosser Bedeutung gewesen. Für eine gründliche Analyse der Motive eines 14-jährigen Möchtegern-Jihadisten reichten drei Stunden Verhandlung aber nicht aus. Einige Zeugen wurden gar nicht angehört. Richter und Staatsanwalt wollten den heiklen Fall offenbar sehr schnell abschliessen. 

Mertkan sei kein Einzelfall, warnt Verteidiger Mayer, «da kommen Tausende nach». Er hätte aus dem Prozess gerne einen «Weckruf für die Politik» gemacht, damit sie Jugendlichen Ausbildungs- und Zukunftsperspektiven anbiete. Doch das Gericht urteilte über einen frustrierten, nach Anerkennung und Identität suchenden 14-Jährigen, nicht über die österreichische Ausländer- oder Arbeitsmarktpolitik.