Das Böse sind die anderen

16. Januar 2016

Wird Polen gerade von den Kommunisten befreit, oder droht eine neue Diktatur? Gegner und Anhänger der neuen Regierung finden keine gemeinsame Sprache mehr, der Hass wird immer grösser. 

Die Ankündigung erfolgt per Telefon, meist am Abend, nach Dienstschluss: «Kommen Sie morgen früh in mein Büro.» Der Rest ist reine Formsache: «Es ist nichts Persönliches, aber: Sie sind entlassen.» Etliche Journalisten der öffentlichrechtlichen Fernseh- und Radiostationen Polens haben ein solches «Gespräch» schon hinter sich. Der Rest fürchtet sich davor. Diese Woche wurde das halbe Team der Nachrichtensendung «Wiadomosci» gefeuert. Darunter ist auch Redaktor Maciek Czajkowski, der es noch immer nicht fassen kann, «was wir in Polen gerade erleben». 


Der Kulturpalast in Warschau. In den TV-Nachrichten darf er nicht mehr gezeigt werden.
Foto: B. Odehnal

Czajkowski ist ein freundlicher junger Mann mit Glatze. Er arbeitete zuvor bei der britischen BBC und weiss, dass überall in Europa politische Parteien die öffentlichrechtlichen Medien beeinflussen wollen. Aber was derzeit in Polen passiere, sei ein «Tsunami in der Medienlandschaft: Sie wollen die absolute Kontrolle». Polens Regierungspartei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) rührt in der Medienlandschaft um. Die öffentlichrechtlichen Medienanstalten werden direkt dem Finanzminister unterstellt, die Führungsposten neu besetzt. 

Die neuen Chefs waren schon unter der ersten Regierung von PiS in den Jahren 2005 bis 2007 an leitenden Stellen tätig, wurden dann aber von der folgenden Regierung der liberalen Bürgerplattform (PO) entlassen. Jetzt sind sie zurück und nehmen Rache an allen, die sie für nicht zuverlässig halten. Neuer Chef des Fernsehens ist Jacek Kurski, der zuvor für die PiS im polnischen Parlament und im EUParlament sass und den aggressiven Wahlkampf 2015 leitete. 

Die Stimmung in den Redaktionen sei katastrophal, erzählt eine Journalistin des Senders TVP, die ich in einem kleinen Café weitab der Redaktion treffe. «Die Regierung will aus TVP eine Propagandastation machen und danach die Privatsender angreifen, indem sie ihnen die staatliche Werbung entzieht», glaubt die Journalistin. «Genau so hat es Orban gemacht, und die PiS hält sich an das ungarische Drehbuch.» 

Um den neuen Geist, der durch die Redaktionsräume weht, auf dem Bildschirm sichtbar zu machen, liess der neue Fernsehchef als Erstes das Hintergrundbild der Nachrichtensendung austauschen. Statt der Spitze des Kulturpalasts im Herzen Warschaus ist nun der Turm des Königsschlosses zu sehen. «Bravo!» applaudierte ein regierungstreues Magazin: Endlich verschwinde das «Symbol der sowjetischen Gewalt» vom Bildschirm. 

Was passierte in Smolensk? 

«Sie wollen Journalisten so lange beugen, bis ihr Rückgrat bricht», fürchtet die Journalistin Renata Kim, die für die polnische Ausgabe von Newsweek arbeitet. Als die Nachrichten von der Neubesetzung der Chefredaktionen eintrudelten, fuhr sie mit dem Snowboard über einen österreichischen Gletscher. Via Facebook rief sie ihre Kollegen zum Protest auf. Das «Komitee zur Verteidigung der Bürgerrechte» griff die Idee auf: Am 9. Januar versammelten sich in Warschau an die 20 000 Menschen vor der Zentrale des Staatsfernsehens, um gegen die Medienpolitik der Regierung zu demonstrieren. Auch in anderen Städten wurde protestiert. 

Solche Proteste würden sich nicht lange halten, glaubt der Gründer und Chefredaktor des Magazins «Do Rzeczy» (Auf den Punkt), Pawel Lisicki: «Die Regierung wird sich davon nicht beeindrucken lassen, und wer hat schon die Energie, bis zu den nächsten Wahlen in drei Jahren zu demonstrieren?» Polen ist in zwei Lager gespalten, und noch nie war die Kluft so tief wie jetzt. 

Wer mit Anhängern von Parteichef Jaroslaw Kaczynski und seiner Partei spricht, bekommt den Eindruck, dass sich Polen erst durch den Wahlsieg der PiS im Oktober 2015 von den Fesseln des Kommunismus befreien konnte. Die Gegner hingegen sehen ihr Land auf dem Weg zurück in ein totalitäres System. Die Gespräche drehen sich stets um die Bedrohung durch «die anderen», die selten beim Namen genannt werden. Es geht immer um «wir» gegen «sie». «Ich höre sie, aber ich verstehe sie einfach nicht», sagt der Soziologe Pawel Spiewak, ein ehemaliger Abgeordneter der Bürgerplattform, über die Regierungspartei: «Sie sind wie eine Sekte.» Die Journalistin Renata Kim berichtet von Mails, in denen sie wüst beschimpft und zum Auswandern aufgefordert wird. Sie sagt, sie fühle sich unter Druck. Nach kurzer Nachdenkpause fügt sie hinzu: «Wahrscheinlich ist es ihnen in den vergangenen acht Jahren so gegangen. Wahrscheinlich fühlten sie sich ebenso unterdrückt.» 

In diesen acht Jahren, von 2007 bis 2015, regierte in Polen die liberale Bürgerplattform PO unter ihrem Ministerpräsidenten Donald Tusk. Als dieser 2014 als Präsident des Europäischen Rates nach Brüssel wechselte, folgte ihm Ewa Kopacz nach, die jedoch ein Jahr später die Wahlen gegen Jaroslaw Kaczynski und seine PiS verlor. Wer heute aus dem Ausland nach Warschau kommt, kann die Unzufriedenheit der Polen mit der Politik der vergangenen Jahre schwer nachvollziehen. Die Stadt macht selbst in diesen grauen Wintertagen einen freundlichen Eindruck. Das Land kam besser durch Wirtschafts- und Bankenkrise als die Nachbarstaaten, mit rund 4000 Zloty (920 Franken) ist das Durchschnittsgehalt höher als in der Slowakei oder in Ungarn. Mit Tusk hat Polen eine wichtige Stimme in der Europäischen Union. Aber vom Aufschwung profitierte vor allem die städtische Mittelschicht, kaum die Bewohner auf dem Land und in den Zentren der Schwerindustrie. Zudem fühlen sich viele Polen von Brüssel und Berlin bevormundet. Sie kreiden der Bürgerplattform Korruption an und dass sie Polen im Ausland schlecht gemacht und die katholische Tradition des Landes ignoriert habe. 

Und dann ist da noch der Absturz in Smolensk. Die Frage, warum der damalige Staatspräsident Lech Kaczynski, der Zwillingsbruder von Parteiführer Jaroslaw, und seine Begleiter im Präsidentenflugzeug starben, spaltet Polen auch fünf Jahre danach. Der «polnisch-polnische Krieg», wie Jaroslaw Kaczynski die Auseinandersetzung um die Aufarbeitung der Katastrophe einmal nannte, ging nie zu Ende. Wer die Kaczynskis kritisch sieht, glaubt eher an einen Unfall beim Landeanflug im dichten Nebel. Viele Anhänger der PiS sind jedoch überzeugt, dass feindliche Mächte beim Absturz die Finger im Spiel hatten: die russische Regierung alleine oder die Russen gemeinsam mit polnischen Komplizen. Die Tatsache, dass Russland das Flugzeugwrack nie an Polen übergeben hat, ist für sie Beweis, dass eine Verschwörung vertuscht werden soll. 

Verfassungsgericht ist gelähmt 

Zurzeit hat Polen nicht einmal ein funktionierendes Verfassungsgericht. Die alte PO-Regierung bestellte noch schnell fünf Verfassungsrichter, als ihre Niederlage absehbar war. Staatspräsident Andrzej Duda, ein ehemaliger Abgeordneter der PiS, verweigerte deren Vereidigung. Die neue PiS-Regierung nominierte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion andere, parteitreue Richter. Sie werden nicht einmal von ihren Kollegen anerkannt. Allerdings verabschiedeten die PiS-Abgeordneten auch ein Gesetz, das die Anwesenheit von mindestens 13 der insgesamt 15 Verfassungsrichter vorschreibt, damit ein Verfahren überhaupt gültig ist. 

Das Gericht ist seither gelähmt, die EUKommission eröffnete ein Verfahren wegen möglicher Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Diese Verfassungskrise sei absichtlich herbeigeführt worden, glaubt der Politologe und Publizist Wojciech Przybylski: So wolle die Regierung Gesetze durchbringen, die verfassungsrechtlich problematisch wären. Zum Beispiel soll der Geheimdienst das Recht bekommen, Daten aus dem Internet zu sammeln und auszuwerten ohne Ermächtigung oder Kontrolle durch Gerichte. Polen würde zu einem Überwachungsstaat, «der über alles hinausgeht, was wir in Europa kennen», sagt Przybylski. 

Anknüpfen an Solidarnosc 

Solche Aushöhlungen der Verfassung zu verhindern, hat sich das «Komitee zur Verteidigung der Demokratie» zum Ziel gesetzt. Deren polnische Abkürzung KOD erinnert an ein anderes Komitee, das im Widerstand der Polen gegen die kommunistische Diktatur eine grosse Rolle spielte: Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter KOR wurde 1976 zur Unterstützung protestierender Arbeiter gegründet und war die Keimzelle der Solidarnosc. Die Ähnlichkeit der Abkürzungen sei kein Zufall, sagt Mateusz Kijowski, ein stadtbekannter Aktivist: «Wir wollen genau so arbeiten, mit demselben Ethos und derselben Transparenz.» Der 48-Jährige engagierte sich für geschiedene Väter und gegen Gewalt an Frauen. 

Es war Ende November, als Kijowski für sich beschloss, dass die Regierung mit ihren Angriffen gegen Verfassungsgericht und Medien zu weit gehe. Er verfasste einen Protestaufruf und gründete eine Facebook-Gruppe, die nach wenigen Tagen 30 000 Mitglieder zählte. Bei den von KOD organisierten Demonstrationen nahmen im Dezember bis zu 50 000 Menschen teil. Die Hoffnung der Regierung, die Proteste würden nach den Feiertagen erlahmen, erfüllte sich nicht. Nach dem Erfolg des Protests am 9. Januar gegen die Entlassungen in den öffentlich-rechtlichen Medien plant Kijowski eine weitere Kundgebung am 23. Januar. «Wir wollen die Regierung nicht stürzen», sagt Kijowski: «Das Wichtigste für uns ist die Bildung der Wähler. Sie müssen über demokratische Grundwerte aufgeklärt werden.» Die Aktivisten von KOR haben deshalb kurze Aufklärungsvideos produziert und sie auf Youtube gestellt – so zum Beispiel «Die Verfassung – warum ist sie für uns alle wichtig?». 


Mateusz Kijowski, Gründer des Komitees zur Verteidigung der Demokratie. Foto: B. Odehnal

Seit der Gründung von KOD hat Kijowski kein ruhiges Leben mehr. Telefonisch und per Mail sei er ständig beschimpft und mehrmals mit dem Tod bedroht worden, sagt er. Erst nachdem er Polizeischutz bekommen habe, seien die Drohungen weniger geworden. Kijowski vermutet hinter den Angriffen nicht die Regierung, sondern eine Kleinpartei namens «Wechsel» (Zmiana), die vermutlich aus Russland finanziert wird. 

Auch wenn Jaroslaw Kaczynski von einer vierten Republik träumt – die komplette Übernahme der Macht nach ungarischem Vorbild hält der Publizist Wojciech Przybylski für unwahrscheinlich. Dafür seien die Polen zu aufsässig. «Wir hatten Walesa, die Ungarn nicht», erklärt der gefeuerte TV-Journalist Maciek Czajkowski knapp den Unterschied der Nationen. Er bereitet sich auf einen heissen Frühling mit neuen Demos vor. Die Regierung werde mehr Fehler machen und finanzielle Belastungen einführen: «Das wird mehr und mehr Menschen verärgern.» Wählerumfragen sehen heute die neue wirtschaftsliberale Opposition Nowoczesna («Modern») bereits vor der Regierungspartei. 

Freilich: Gewählt wird erst in mehr als drei Jahren. Kaczynski und seine PiS wirken nicht so, als würde sie der Druck der Strasse beeindrucken. Die Sorgen der EU hält der Publizist Pawel Lisicki für «total überzogen». Die Demokratie sei keineswegs in Gefahr, PiS handle bloss genau so wie die vorherige Regierung. Lediglich die Rhetorik sei härter, «das kommt von der langen Durststrecke in acht Jahren Opposition».