Das Böse sitzt in Brüssel

26. September 2016

Mit einer beispiellosen Hasskampagne gegen Flüchtlinge bereiten Viktor Orbans Parteisoldaten die Ungarn auf das Referendum am 2. Oktober vor.

Der Gemeindesaal des Budapester Vororts Csepel ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Manche Besucher müssen im Vorraum stehen. Organisatorin Adrienn Kitzinger wundert sich über das grosse Interesse nicht. Ungarn sei in einer Notlage, «da muss jeder für sein Volk da sein.» Beim Eingang werden Flugblätter verteilt: Eine Fotomontage macht Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz für die Anschläge in Paris und Brüssel verantwortlich. «Nur mit der Volksabstimmung können wir Brüssel stoppen», steht darunter.

 
«Gehen Sie kein Risiko ein!» Werbetafeln der Regierung für das Referendum auf einer Budapester Donaubrücke. Foto: B. Odehnal

Für ihr Volk da sind in diesen Tagen auch die Abgeordneten der Regierungspartei Fidesz. Bei Bürgerversammlungen wie in Csepel informieren sie über das Referendum am 2. Oktober gegen die Flüchtlingspolitik der EU. «Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des (ungarischen) Parlaments die Zwangsansiedlung von nicht-ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann», lautet die Frage. Dass die Mehrheit der Wähler sie mit Nein beantworten wird, steht ausser Zweifel. Besorgt ist Premier Viktor Orbantrotzdem: Die Wahlbeteiligung könnte unter 50 Prozent bleiben, womit das Referendum ungültig und Orban blamiert wäre. Linke Oppositionsparteien haben zum Boykott aufgerufen, Menschenrechtsorganisationen wie das Helsinki-Komitee fordern die Wähler auf, teilzunehmen, aber ungültig abzustimmen.

Orban antwortet mit Propaganda, wie sie Ungarn seit Ende des Kommunismus nicht mehr gesehen hat. Umgerechnet etwa 12 Millionen Franken hat die Regierung nach eigenen Angaben dafür ausgegeben. Die Plakate kleben in den Trams, in Zügen und Bahnhöfen, sie hängen an Lichtmasten, an Hausmauern und den Werbetafeln entlang der Autobahnen. In den ersten Wellen der Kampagne wurden die Ungarn mit Suggestivfragen vor Flüchtlingen gewarnt: «Wussten Sie, dass die Anschläge von Paris von Einwanderern ausgeführt wurden?» Oder: «Wussten Sie, dass seit Beginn der Einwanderungskrise mehr als 300 Menschen bei Terroranschlägen gestorben sind?»

Militaristische Wortwahl

Nun, kurz vor dem Referendum, wird das Land in seine Nationalfarben getaucht. Auf rot-weiss-grünem Grund fordert eine knallige Schrift den Betrachter auf: «Gehen Sie kein Risiko ein! Stimmen Sie mit Nein!» Marta Pardavi, Vorsitzende des ungarischen Helsinki-Komitees, hält das für eine mit Steuergeld finanzierte Hasskampagne, der «niemand in Ungarn entkommen kann.» Öffentlich-rechtliche ­Radio- und Fernsehstationen trommeln Botschaften ganz nach Geschmack der Regierung: Migranten sind gefährlich, Migranten wollen Europas Kultur zer­stören, Terror verbreiten.

Das Wort «Flüchtling» kommt in den Kampagnen nicht vor. Für Ungarns Regierung sind alle, die über die Balkanroute kommen, «Wirtschaftsmigranten» oder Teil einer «neuen Völkerwanderung». Die Wortwahl wird zunehmend militaristischer. Ungarn werde angegriffen, behauptet Viktor Orban. Bei einem Gipfeltreffen am Samstag in Wien spricht er von neuen «Verteidigungs­linien», die Europa errichten müsse.


«Stimmen Sie mit Nein!» Die Botschaft hat auch die Bewohner der Plattenbauten in Csepel erreicht. Foto: B. Odehnal

Um dieses Bild einer bedrohten Nation bis ins kleinste Dorf zu verbreiten, schickt Orban seine Parteisoldaten zu Bürgerversammlungen. In Csepel treten an diesem Abend der lokale Parlamentsabgeordnete Szilard Nemeth und Fidesz-Jungstar, Gergely Gulyas, stellvertretender Präsident des Parlaments und der Partei auf. Eine «unvorstellbare Masse an Einwanderern» wolle die Brüsseler Bürokratie nach Ungarn umsiedeln, behauptet Gulyas. Tausende Einwanderer seien auf dem Weg, und weil die EU die Familienzusammenführung erleichtern wolle, würden jedem Migranten acht bis zehn Familienmitglieder folgen.

Woher kommen solche Informationen? Nicht aus Brüssel, wo Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker resigniert feststellt, dass Solidarität nicht verordnet werden könne. Es sind eher Gerüchte, die in rechten Medien und rechtsextremen Internetsites kursieren. Die Fidesz-Politiker stellen sie als Tatsache dar. Einige ungarische Gemeindeverwaltungen erhielten in den vergangenen Tagen ein Fax mit Briefkopf der EU-Kommission, in dem ein Pilotprojekt zur Umsiedelung von Asylbewerbern angekündigt wird. Dafür würden die auserwählten Gemeinden bis zu neun Millionen Euro von der EU erhalten. Der Brief ist eine Fälschung. Die Kommission nehme den Vorfall ernst und werde reagieren, sagt die Sprecherin von Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos.

Orbans Endkampf

Laut dem von der EU geplanten Verteilungsschlüssel müsste Ungarn 1240 Asylbewerber aufnehmen. Dagegen haben Ungarn und die Slowakei beim Europäischen Gerichtshof geklagt. Zur Quote werden die Ungarn aber gar nicht gefragt. Die Fragestellung des Referendums sei ungenau, kritisiert die Menschenrechtlerin Marta Pardavi: «Von welcher Zwangsansiedlung redet die Regierung?» Pardavi hält die Abstimmung für verfassungswidrig.

In seltener Offenheit sagt Viktor Orban am Samstag in Wien, um was es ihm wirklich geht: Er sieht Europa in einem Endkampf zweier Ideologien, zwischen denen es keine Verständigung geben kann: «Die einen sagen, dass man in Zeiten der Globalisierung Völkerwanderungen nicht aufhalten kann. Die anderen glauben, dass unsere Landesgrenzen und unsere Zivilisation bestehen bleiben müssen und dass man mit den technischen Mitteln des 21. Jahrhunderts Menschen sehr wohl aufhalten kann.» In Ungarn werde nun das Volk über diese beiden Weltanschauungen entscheiden. 

Laut Helsinki-Komitee sank die Zahl der in Ungarn registrierten Flüchtlinge drastisch. Nicht wegen des Grenzzauns zu Serbien, der bald durch eine zweite Reihe verstärkt werden soll. Sondern, weil Polizei und Militär seit Juli Asyl­suchende bis zu acht Kilometer hinter der Grenze aufgreifen und ohne Befragung oder Begründung ausschaffen dürfen. Weil es keinen Bedarf mehr gibt, werden die grossen Flüchtlingslager in Debrecen und Bicske aufgelöst.

Alles wegen der «Zwangszuwanderung»

Bei den Bürgerversammlungen zeigen die Redner Europakarten mit Hunderten roten Punkten: Das sind angebliche No-go-Zonen in westeuropäischen Metropolen, wo das Gesetz der Zuwanderer herrsche, wohin sich kein Weisser und kein Polizist mehr trauten. «Niemand in Europa kann sich noch sicher fühlen», sagt Gergely Gulyas. Sein Kollege Szilard Nemeth spricht gezielt die Verlustängste seiner Zuhörer an. Csepel war vor der Wende das Zentrum der Schwerindustrie. Die meisten Besucher im Gemeindesaal haben den Zusammenbruch der ­Industrie miterlebt und leben in ihren Plattenbauwohnungen von viel zu kleinen Pensionen. Nun müssen sie hören, dass das Wirtschaftswachstum auf dem Spiel stehe, dass Arbeitslosigkeit und Pensionskürzungen drohen. Alles wegen der «Zwangszuwanderung». Ein Raunen geht durch den Saal. «So weit lassen wir es nicht kommen», beruhigt Organisatorin Adrienn Kitzinger. Das Bezirksparlament beschliesst am selben Abend, dass Csepel nicht gezwungen werden dürfe, Migranten aufzunehmen.

Die Rentner im Gemeindesaal in Csepel sind entschlossen, am 2. Oktober mit Nein zu stimmen. Sie haben ihren Abgeordneten zugehört und wissen jetzt, dass die linksliberalen Eliten in Brüssel, Paris und Berlin Zuwanderer nach Europa holen wollen, um ihre Wahlsiege abzusichern. Sie wissen auch, dass nur das Referendum diese sinis­teren Pläne zerstören könne, denn «Brüssel zittert vor der Einheit der Ungarn». Natürlich habe sie Warnungen vor Terror und Massenzuwanderung im Fern­sehen gehört und in Zeitungen gelesen, sagt eine pensionierte Sekre­tärin, «wenn es aber diese Herren ­persönlich sagen, ist es noch überzeugender.»