Das letzte Gefecht des roten Wiens

30. April 2013

Der Mai-Aufmarsch der Wiener Sozialdemokraten ist ein lebendes Museum der Arbeiterbewegung.

«Und nun sehen wir vor unserer Tribüne die Delegation aus dem Bezirk Simmering. Sie haben den weiten Weg auf sich genommen, um hier die Errungenschaften des roten Wien zu feiern und soziale Gerechtigkeit zu fordern. Wir begrüssen die Simmeringer Genossen mit einem herzlichen: ‹Freundschaft!›» So ähnlich wird es morgen wieder aus den Lautsprechern vor dem Wiener Rathaus und auf der Ringstrasse klingen. Wiens Sozialdemokraten feiern den Tag der Arbeit so, wie sie es seit 123 Jahren tun: mit einem Sternmarsch, der die SPÖOrganisationen aller 23 Stadtbezirke auf die Ringstrasse und vor die Prominententribüne beim Wiener Rathaus führt.

Zu den besten Zeiten nahmen am Mai-Aufmarsch 200 000 Menschen teil. Heute gibt die Partei keine offiziellen Zahlen heraus. In Schätzungen spricht man von «mehreren Zehntausend». Dennoch ist der Marsch die grösste institutionalisierte Kundgebung der Arbeiterbewegung weltweit. Es gibt ernsthafte Überlegungen, den Wiener Mai-Aufmarsch als immaterielles Weltkulturerbe von der Unesco unter Schutz stellen zu lassen. Weil er in 123 Jahren von Mode und Zeitgeist praktisch unberührt blieb.

Es gibt in Wien auch eine bürgerliche Partei. Aber die wahren Konservativen sind die Sozialdemokraten. Nichts soll sich ändern aus Sicht der seit 1919 (mit Ausnahme von zwölf Jahren Austrofaschismus und Nationalsozialismus) regierenden SPÖ.

Der Mai-Aufmarsch ist die alljährliche Manifestation dieses Stillstands. Ein Museum auf Füssen, eine Reminiszenz an die Massenbewegungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Genossen holen die alten Fahnen und Abzeichen aus den Parteilokalen und folgen einer Choreografie, die sich jeder noch so kleinen Veränderung widersetzt: Die Fahnenträger gehen voraus, dann folgen Strassenbahner-Kapellen, böhmische Volkstanzgruppen, Arbeitermandolinenorchester, Gewerkschaften, Sportvereine. Von der Tribüne winken ihnen der Bürgermeister und die Parteiführung zu. Die Aufstellung der Nomenklatura wird wie einst auf dem Roten Platz in Moskau von der Parteibasis kritisch beäugt und kommentiert.

Es ist ein Gruss aus einer Zeit, als die SPÖ im «roten Wien» eine ähnlich tragende Rolle wie die katholische Kirche auf dem Land hatte. Damals war halb Wien bei der Partei, denn ohne Parteibuch gab es keinen Job im öffentlichen Dienst und keine kommunale Wohnung. Es war eine Zeit, als die öffentlichen Verkehrsmittel am 1. Mai erst um 14 Uhr den Betrieb aufnahmen. Das Personal musste ja vorher am Mai-Aufmarsch teilnehmen.

Seit 14 Jahren fahren die Trams wie an jedem Tag, das Parteibuch bietet keine soziale Sicherheit mehr, und die Roten müssen die Macht in Koalition mit den Grünen teilen. Am 1. Mai aber ist die Welt der Wiener Sozis für kurze Zeit wieder im Lot. Alle sind da, wo sie hingehören, nur die Senioren auf den Ehrentribünen werden jedes Jahr weniger. Alle singen aus voller Kehle die Internationale und die «Arbeiter von Wien» mit: Der rote Bürgermeister, der die schönsten Plätze der Stadt an Grossbanken und Investoren verschachert; der rote Bundeskanzler, der mit ausländerfeindlichen Boulevardblättern paktiert; der ehemalige rote Bundeskanzler, der sich von Baukonzernen und zentralasiatischen Diktatoren bezahlen lässt. Hier sind sie Sozialisten, hier rufen sie die Genossen «zum letzten Gefecht».

Nach der SPÖ dürfen am 1. Mai auch die letzten Kommunisten, Alternative und Kurdenorganisationen über die Ringstrasse ziehen. Dann kommt die Strassenreinigung und kehrt die Reste der Revolution in die Kanalisation. Zu diesem Zeitpunkt sitzt die Arbeiterbewegung längst bei Bier und «Stelzen» (Gnagi) im legendären Schweizerhaus im Prater. So, wie sie es immer tut am 1. Mai. Seit 123 Jahren.