«Das sind Killer an der Fernbedienung»

26. Oktober 2022

Recherchegruppe Bellingcat Rund 30 junge IT-Nerds programmieren die russischen Raketen, die in der Ukraine Zivilisten töten und Infrastruktur zerstören. Christo Grozev, Russland-Spezialist, sagt, wie die Gruppe auf ihre Enttarnung reagiert hat.


«Wir hatten nur eine einzige Chance»: Christo Grozev bei einem Besuch in Zürich. Foto: B. Odehnal

Die Flugbahnen der russischen Raketen, die in der Ukraine Wohnhäuser, Schulen oder Spitäler dem Erdboden gleichmachen, werden von IT-Nerds in Moskau und St. Petersburg programmiert. Das hat die internationale Recherchegruppe Bellingcat herausgefunden. Bei den Programmierern handelt es sich nach Angaben der Gruppe um etwa 30 junge Männer und Frauen. Manche von ihnen sollen aus der Gamingszene kommen, andere sollen bereits für das russische Militär im Syrienkrieg tätig gewesen sein, wie etwa der Kommandant der Gruppe. Der jüngste Raketenprogrammierer in der Gruppe ist erst 24 Jahre alt.

Die jungen Russinnen und Russen haben Raketen vom Typ Kalibr, Iskander oder KH-101 programmiert, mit denen immer wieder zivile Ziele in der Ukraine beschossen werden. In Kiew, Dnipro und Lwiw beispielsweise wurden am 10. Oktober Wohnhäuser und Spielplätze durch Raketen getroffen. 20 Zivilisten starben. Diese russischen Raketen sind Hochpräzisionswaffen. Die Ziele werden also bewusst gewählt. Jene Personen, die weit weg von der Front ihre Flugbahn programmieren, seien damit für die Opfer mitverantwortlich, hält Bellingcat fest. Auf ihrer Website nennt die Investigativgruppe deshalb sämtliche Mitglieder der Gruppe mit Namen und zeigt Fotos aus ihren Accounts in den sozialen Netzen.

Der Leiter der Russland-Ermittlungen bei Bellingcat, Christo Grozev, legt nun offen, wie er die russischen Raketenprogrammierer gefunden hat und wie diese arbeiten.

Herr Grozev, Sie haben nach den Programmierern russischer Raketen gesucht. Was haben Sie gefunden?

Wir fanden eine sehr geheime und spezialisierte Militäreinheit mit über 30 Mitgliedern, die von Moskau und St. Petersburg aus tätig ist. Sie programmieren die Flugrouten der Mittelstreckenraketen. Das sind zum Beispiel Raketen vom Typ Kalibr, wie sie in den vergangenen Tagen in ukrainischen Städten einschlugen, dort Zivilisten töteten und Elektrizitätswerke zerstörten. Abgeschossen werden sie von Schiffen, vom Boden oder von Flugzeugen. Aber ihre Flugbahn programmieren Menschen, die nicht an der Front stehen.

Wer sind diese Leute?

Diese Gruppe besteht aus jungen Männern und ein paar jungen Frauen mit IT-Erfahrung. Sie nutzen ihre technologischen Fähigkeiten, um Raketen in Einkaufszentren oder Wohnhäuser zu lenken. Das ist für uns schwer zu begreifen. Aber es ist wohl einfacher, ein Verbrechen zu begehen, wenn man das Opfer nicht sieht. Wenn es wie ein Spiel aussieht.

Wie hat es Bellingcat geschafft, diese Programmierer zu identifizieren?

Dazu war ein halbes Jahr intensiver Nachforschungen notwendig. Zu Beginn hatten wir lediglich Listen mit Namen Hunderttausender russischer Soldaten und Offiziere. Das sind so viele, dass die Information an sich wertlos ist. Aber wir stiessen hinter einigen Namen auf eine Abkürzung: GVC. Wir fanden heraus, dass die drei Buchstaben für «Zentrales Rechenzentrum» standen. Dann sahen wir uns auf einer anderen Liste die Anzahl der Telefongespräche einiger Personen mit GVC genauer an und entdeckten, dass sie auffallend viele Gespräche mitten in der Nacht oder am frühen Morgen geführt hatten. Und zwar an jenen Tagen, an denen Kaliber-Raketen zivile Ziele in der Ukraine getroffen hatten. Jeweils kurz vor und kurz nach dem Abschuss der Raketen. Das konnte kein Zufall sein. Wir konnten 33 Mitglieder dieser Einheit identifizieren. Wir hatten ihre Namen und kontaktierten auch alle am Telefon. Wir wollten ihnen die Möglichkeit geben, ihre Version der Geschichte zu erzählen.

Wie haben diese Leute reagiert?

Es war klar, dass nach dem ersten Anruf von uns die weiteren Mitglieder der Gruppe gewarnt wurden. Wir hatten nur eine einzige Chance. Und tatsächlich bekamen wir beim ersten Anruf eine relativ ehrliche Antwort von einem Mitglied der Gruppe.

Was sagte er?

Er stritt gar nicht ab, dass die Zielerfassung sein Job sei. Ich fragte ihn dann, ob der Tod von Zivilisten Teil seines Auftrags sei oder ob das durch sehr schlechte Zielerfassung passiere. Er antwortete mir: «Sie wissen genau, dass ich auf diese Frage keine Antwort geben kann, ohne meine Sicherheit zu gefährden.» Bei unseren weiteren Anrufen wurde schnell klar, dass die Leute schon instruiert worden waren. Alle erklärten, dass sie nicht bei der Armee seien, sondern als Klempner oder Busfahrer arbeiteten. Wir schickten ihnen Fotos, auf denen sie in Uniform zu sehen sind. Sie antworteten: Sie hätten keine Ahnung davon. Sie wurden offenbar vom Geheimdienst FSB gut instruiert.

Wissen diese IT-Nerds, dass sie durch ihre Arbeit die Raketen auf zivile Ziele lenken?

Möglicherweise begriffen sie beim ersten Mal nicht, was für ein Ziel sie da treffen. Aber inzwischen wissen sie genau, dass durch ihre Handlung Zivilisten sterben. Wenn wir aus offenen Quellen schnelle und gute Informationen über die Raketeneinschläge bekommen, dann können die Programmierer das auch. Das sind intelligente Menschen, die Zusammenhänge erkennen. An einem Tag programmieren sie einen Raketenflug, am nächsten Tag erfahren sie vom Tod vieler Zivilisten. Sie sind Killer an der Fernbedienung.

Hätten sie den Befehl zur Programmierung verweigern können?

Sie hätten Nein sagen und aussteigen können. Sie hätten bloss ihren Job verloren. Aber sie hätten keine Strafverfolgung fürchten müssen. Es gibt für diese Leute keine Entschuldigung.