Der Mann aus Eisen

5. Februar 2013

Von der Kettenbrücke bis zu den Tramrädern: Abraham Ganz, Zürcher Industriepionier und Ingenieursgenie, hat im 19. Jahrhundert Budapest geprägt. Er gab sich patriotisch ungarisch, blieb aber zeitlebens Schweizer.

Es war ein beeindruckender Trauerzug. Sechs Pferde zogen die schwarze Kutsche mit dem Sarg. Vor dem Wagen und zu beiden Seiten wurden Fackeln getragen, dahinter riesige Trauerfahnen. Hunderte Menschen folgten zu Fuss, darunter das «gesamte Arbeiterpersonal der Eisengiesserei, das in dem Verstorbenen einen liebevoll fürsorgenden Chef betrauerte», berichtete der «Pester Lloyd» am 18. Dezember 1867.


Die Budapester Kettenbrücke. Foto: B. Odehnal

In Budapest zu Grabe getragen wurde Abraham Ganz - ein Schweizer Unternehmer, dessen Name heute noch an vielen Orten Ungarns anzutreffen ist.

Strassen und Fabriken sind nach Ganz benannt, ungarische Züge werden von Ganz-Lokomotiven gezogen, in der Hauptstadt fahren Trams von Ganz. Die Aufhängungen der berühmten Kettenbrücke in Budapest wurden von Ganz gegossen. Kaum jemand aber weiss, dass der bekannteste ungarische Eisengiesser aus dem Kanton Zürich stammte und sein Leben lang Schweizer Bürger blieb, auch wenn er sich in der Öffentlichkeit als patriotischer Ungar zeigte.

Ungeheurer Reichtum

Im Giessereimuseum in der Budapester Bem-Strasse wird die Erinnerung an Ganz und seine Errungenschaften bewahrt: zwei Hochöfen aus dem Jahr 1858, Kräne, Werkzeuge, ein prachtvoll geschnitzter Büroschrank. Den grossen Erfolg hatte Ganz mit seinem Patent für Eisenbahnräder, die er an die expandierenden Eisenbahngesellschaften in ganz Europa verkaufen konnte. Aus dem kleinen Schweizer Giessereigesellen wurde so einer der reichsten Männer in Ungarn und ein Pionier industrieller Massenproduktion.

Über das Privatleben von Abraham Ganz ist nicht viel bekannt. Man habe «leider sehr wenige persönliche Dokumente», bedauert die Museumsdirektorin Katalin Lengyel-Kiss. Ganz schrieb aus Budapest viele Briefe an seine Eltern in der Schweiz. Aber die liegen im Stadtarchiv Zürich. Das Giessereimuseum Budapest bekam Kopien und eine Rechnung, «die wir niemals hätten begleichen können», so die Direktorin. Nach Intervention der Schweizer Botschaft in Ungarn musste das Museum doch nicht zahlen. Aber die Dokumente sind bis heute nicht ausgewertet.

Abraham Ganz kam 1814 als Sohn eines Schulmeisters in Unterembrach ZH zur Welt. Seine Familie war seit vielen Generationen protestantisch, allerdings fürchtete Ganz später, dass sein Vorname ihm Probleme bereiten könnte. In einem seiner Briefe aus Ungarn bat er deshalb seine Eltern, Schreiben an ihn nur mit «A. Ganz» zu adressieren, «weil sonst jeder denkt, ich wäre Jude». In Ungarn Mitte des 19. Jahrhunderts hätte das zumindest wirtschaftliche Schwierigkeiten bedeuten können.

Schon sehr früh begeisterte sich Ganz für neue Techniken des Eisengiessens. Mit 17 ging er nach Zürich und lernte in der Giesserei von Escher Wyss. Später sammelte er Erfahrungen in Deutschland, Frankreich und schliesslich in Wien. Er verdiente damals so gut, dass er die Eltern und seine neun Geschwister unterstützen konnte. 1841 erhielt er eine Stelle in Budapest, wo der Reformer Istvan Szechenyi den Umbau Ungarns von einem rückständigen Agrarstaat zu einer Industrienation vorantrieb und dabei auf Schweizer Ingenieurskunst setzte. Der ungarische Graf lud den Frauenfelder Johann Jakob Sulzberger ein, in Budapest ein Eisenwerk mit eigener Giesserei zu errichten.

Selbstinszenierung als Magyar

In dieser Giesserei heuerte Ganz an und arbeitete sich schnell nach oben. Der Durchbruch kam in den 1840er-Jahren mit einem Auftrag zum Giessen von Eisenteilen für eine Hängebrücke nach Plänen des britischen Ingenieurs Adam Clark. Die Kettenbrücke wurde zum weltbekannten Wahrzeichen Budapests.

Ganz kostete der Auftrag jedoch fast das Leben: Beim Giessen eines Brückenteils spritzte flüssiges Eisen aus dem Ofen. Ganz überlebte, verlor allerdings bei dem Unfall ein Auge.

1844 machte sich Ganz selbstständig, kaufte ein Grundstück auf der rechten Donauseite, in der damals noch selbstständigen Gemeinde Buda (auch «Ofen» genannt), und baute seine erste Fabrik. Sie arbeitete bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. In den Resten der Anlage ist heute das Giessereimuseum untergebracht.

Ganz sei damals schon als leidenschaftlicher und «in der Seele überzeugter Ungar» aufgetreten, sagt Museumshistoriker Mate Millisits. Der Fabrikant zeigte sich gerne in ungarischer Tracht. Es gibt jedoch keinen Hinweis, dass er die ungarische Sprache erlernte. In Budapest war das zu jener Zeit nicht notwendig, die Oberschicht sprach Deutsch. Auch der in Westungarn geborene Komponist Franz Liszt, ein Zeitgenosse von Ganz, inszenierte sich als Magyar, versuchte aber erst im hohen Alter, Ungarisch zu lernen. Mit mässigem Erfolg.

Ganz nahm nie die österreichisch-ungarische Staatsbürgerschaft an, blieb stets Schweizer. Das bewahrte ihn vor einer längeren Gefängnisstrafe. Als sich die Ungarn 1848 gegen die Herrschaft der Habsburger erhoben, soll Ganz für die Aufständischen Kanonen gegossen haben mit der Aufschrift «Hände weg von Ungarn». Historisch bewiesen ist das nicht, der Spruch hat sich allerdings gehalten. Er ist heute wieder auf Spruchbändern zu sehen, wenn Anhänger von Ministerpräsident Orban gegen die Europäische Union und den Internationalen Währungsfonds demonstrieren.

Nach der blutigen Niederschlagung der Revolution wurde Ganz verhaftet, mit Gefängnis bedroht, dann aber freigesprochen. Weil er Bürger der neutralen Schweiz war. Und weil die Habsburger nicht auf sein enormes technisches Wissen verzichten wollten.

Ganz entwickelte nach amerikanischem Vorbild eine neue Methode für den Schalenguss von Eisenbahnrädern. Sie waren stabiler und konnten einfacher, schneller und billiger als geschmiedete Räder hergestellt werden. Im Giessereimuseum sind die mit schwarzem Sand gefüllten Giesskreise und die hölzernen Gussschalen erhalten. In der alten Halle hängt noch der Geruch von Eisen und Altöl. Es braucht nicht viel Fantasie, sich die schwitzenden Arbeiter im Lärm der Hämmer und im Schein des rot glühenden Eisens vorzustellen.

Die Fabrik lieferte Eisenbahnräder für 59 Bahngesellschaften in der österreichisch-ungarischen Monarchie und im europäischen Ausland. Besondere Freude habe es Ganz bereitet, dass auch die Schweizerische Nordostbahn nach ausführlichem Test Räder bei ihm bestellt habe, heisst es in einer alten Studienschrift des Zürcher Vereins für wirtschaftshistorische Studien.

Der Schweizer sei ein echter Patriarch, aber ein guter Chef gewesen, glaubt Historiker Millisits: Ganz habe für seine fast 400 Arbeiter eine Pensionskasse eingerichtet und deren Kindern regelmässig Geld geschenkt. Auch habe er sich an einer Anti-Alkohol-Kampagne beteiligt und die reformierte Gemeinde in Ofen finanziell unterstützt.

Besuch vom Kaiser

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war Ganz einer der reichsten Bürger Budapests. Er bekam Orden und die Ehrenbürgerschaft der Stadt, Kaiser Franz Joseph besuchte zweimal seine Fabrik. Wer durch Budapest ging, stiess an jeder Ecke auf Produkte aus ganzscher Erzeugung: Eisenbahn- und Tramräder, Gaskandelaber, Brückengeländer. Unweit der Fabrik, am rechten Donauufer, liess Ganz für sich, seine erweiterte Familie und seine Vorarbeiter ein Palais errichten, das damals mit 40 Wohnungen auf vier Stockwerken zu den grössten Wohnhäusern Budapests gehörte. Über dem gusseisernen Tor hielten zwei Engel ein Eisenbahnrad mit den Initialen A. G.

Das Palais wurde in der Schlacht um Budapest im Februar 1945 zerstört und danach abgerissen. Heute erinnere an dieser Stelle nicht einmal eine Gedenktafel an den Industriellen, sagt Katalin Lengyel-Kiss, «da hätte die Stadt schon mehr tun können».

Ganz hatte keine Kinder, adoptierte jedoch zwei Kinder aus der Familie seiner Frau Josefa. Aus seiner eigenen Familie holte er mehrere Brüder nach Budapest und beschäftigte sie in seiner Fabrik. Als Nachfolger baute er einen engen Mitarbeiter auf, den Deutschen Andreas Mechwart. Unter diesem wurden die Ganz-Werke zum international tätigen Konzern, der Pionierarbeit auf dem Gebiet der Elektrotechnik leistete. In der Budapester Fabrik wurden die ersten Wechselstrom-Transformatoren entwickelt. Die neue Wechselstrom-Technik wurde zum ersten Mal in der Schweiz bei einer Fabrik und in einem Luzerner Hotel in der Praxis angewandt.

Erst nach der Wende 1989 wurde die Elektrofabrik im Herzen Budapests stillgelegt. Der Umbau der Hallen in ein Kultur- und Eventzentrum namens «Millenaris» war ein Prestigeprojekt der ersten Regierung Orban.

Die Kommunisten versuchten zwar das Andenken an den «bösen Kapitalisten» aus der Schweiz zu tilgen. Doch sie profitierten gleichzeitig durchaus von seinem industriellen Vermächtnis. Im staatlichen Konzern Ganz-Mavag erzeugten 30 000 Arbeiter Eisenbahnen, Schiffe, Motoren, Flugzeugantriebe. Nach der Wende wurde das Unternehmen zerschlagen, und etliche Sparten wurden stillgelegt.

Im riesigen Waggonwerk in der Budapester Josefstadt residiert heute der grösste chinesische Markt Mitteleuropas. Unter rostigen Portalkränen bieten chinesische und vietnamesische Händler billige Kopien von Levi’s-Jeans und Gucci-Handtaschen an. Der Markt ist immer gut besucht, die Kunden kommen aus entlegenen ungarischen Dörfern, aus Rumänien und der Ukraine.

Sprung aus dem Fenster

In Sichtweite des Chinesenmarkts liegt der grosse Friedhof Kerepesi. Direkt an der Mauer steht eine Gruft mit Kuppel und mächtigem Tor, die alle anderen Gräber überragt. Abraham Ganz hat seinen grössten Erfolg nicht lange überlebt. Am 23. November 1867 gossen die Ganz-Werke das hunderttausendste Waggonrad. Der Fabrikbesitzer wurde gefeiert und erhielt von seinen Arbeitern eine Festschrift mit ungarischer Fahne neben den Wappen Zürichs und der Schweiz auf dem Einband: «Arbeit adelt Manneskraft, Arbeit hebt des Mannes Werth.» Drei Wochen danach stürzte sich Ganz aus einem Fenster im obersten Stock seines Budapester Palais.

Ganz dürfte depressiv und durch die Arbeit psychisch und physisch überlastet gewesen sein. Heute würde man wohl von Burn-out sprechen. Damals schrieben die Zeitungen von «zufälliger Todesursache».

Über die Hintergründe seines Selbstmords würden Historiker Millisits und Museumsdirektorin Lengyel-Kiss gerne mehr forschen. Ebenso wie über sein Leben. Doch die meisten seiner Briefe konnten noch nicht übersetzt werden, es fehlt das Geld für wissenschaftliches Personal. Die spärliche Subvention des Staates wird für den Erhalt der Fabrikhalle gebraucht. Unlängst tropfte Wasser auf die historischen Hochöfen, da musste der Dachstuhl sofort saniert werden. «Wir hüten hier einen industriekulturellen Schatz», sagt Lengyel-Kiss: «Ich mache mir Sorgen, ob wir ihn erhalten können.»