Der Massenmörder im Schlosspark

28. Januar 2013

Das letzte Stalin-Denkmal Europas findet sich in Wien, weil der Diktator einmal hier wohnte.

Zugegeben: Ein Blickfang ist das Denkmal an der gelben Hauswand eines kleinen Hotels nicht. Autos und Busse rasen auf zwei Fahrspuren daran vorbei Richtung Wiener Stadtzentrum. Und Fussgänger sind in der grauen Strasse selten, wo die umstrittene Marmortafel hängt. Ein Kopf mit markantem Schnauzbart prangt da über der Inschrift: «In diesem Haus wohnte im Jänner 1913 J. W. Stalin. Hier schrieb er das bedeutende Werk ‹Marxismus und die nationale Frage›.» Mitten in Wien und nahe des Barockschlosses Schönbrunn, das jedes Jahr Hunderttausende Touristen anzieht, steht das letzte Stalin-Denkmal Europas ausserhalb der ehemaligen Sowjetunion.


Foto: B. Odehnal

Erhalten wird die Marmortafel von der sozialdemokratisch regierten Gemeinde Wien. Sie beruft sich auf den Staatsvertrag mit den Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs von 1955, der den Erhalt sowjetischer Denkmäler festschrieb. Allerdings würden sich nicht einmal die Russen gegen die Entfernung der Tafel wehren. Schon in den 60er-Jahren erkundigte sich Nikita Chruschtschow, ob man die Erinnerung an den ungeliebten Diktator nicht entfernen könne. Njet sagten die Österreicher damals. Nach dem Fall der Mauer bat Aussenminister Edward Schewardnadse den Wiener Bürgermeister noch einmal, aber der stellte sich taub.

Josif Wissarionowitsch Dschugaschwili kam 1878 in Georgien zur Welt, 1912 wurde er ins Zentralkomitee der – damals illegalen – Kommunistischen Partei aufgenommen. Er nannte sich «Stalin», wurde von Freunden aber weiterhin «Sosso» gerufen. Im Januar 1913 kam er nach Wien, um im Auftrag Lenins über die nationale Frage zu schreiben, was er selbst als «Blödsinn» empfand. Stalin wohnte bei einer russischen Familie, bei der Nikolai Bucharin verkehrte. Dieser wurde zu seinem Mitarbeiter, bis Stalin ihn 1938 erschiessen liess.

Auch einem anderen Revolutionär begegnete Stalin in Wien erstmals. Lew Dawidowitsch Bronstein sass bei einer Tasse Tee, als der junge Georgier in die Stube trat: «Er war klein, dünn, Pockennarben bedeckten seine graubraune Haut. Ich sah nicht den geringsten Anflug von Freundlichkeit in seinen Augen», erinnerte sich der Mann mit Kampfnamen «Trotzki» später an das erste Treffen mit Stalin. Nach dem Tod Lenins wurden die beiden erbitterte Konkurrenten um dessen Erbe. Trotzki verlor, flüchtete ins Exil und wurde 1940 in Stalins Auftrag ermordet.

Wien war damals Brutstätte späterer Diktatoren. Josip Broz «Tito» arbeitete 1913 als Mechaniker im nahen Wiener Neustadt, Adolf Hitler lebte im Obdachlosenheim und verkaufte selbst gemalte Ansichtskarten. Der deutsche Publizist Florian Illies beschreibt im Buch «1913 – der Sommer des Jahrhunderts», wie Hitler und Stalin einander im Schönbrunner Schlosspark grüssten. Das ist Fiktion. Beide liebten zwar den Park und bestaunten den greisen Kaiser Franz Joseph, der jeden Tag im Achtspänner von Schönbrunn in die Hofburg fuhr, aber sie trafen einander nie.

Den Wiener Behörden machten die Revolutionäre keine Sorgen. Ein Politiker, auf die Situation in Russland angesprochen, meinte lachend, wer denn da Revolution machen solle: «Vielleicht der Herr Bronstein aus dem Café Central?» Fünf Jahre später hatte Bronstein (alias Trotzki) den Zaren gestürzt. Er baute die Rote Armee auf, die 1945 Wien vom Nationalsozialismus befreite. Aber an ihn erinnert kein Denkmal in Wien. Das Stalin-Denkmal wurde 1949, noch zu Lebzeit des Diktators, von Bürgermeister Theodor Körner eingeweiht. Vermutlich erhofften sich die Wiener eine freundlichere Behandlung durch die Sowjets, die ein Viertel des Landes und der Hauptstadt kontrollierten. Nach Stalins Tod 1953 und dem Abzug der Roten Armee 1955 liess die Stadtverwaltung das Relief hängen. Erst seit kurzem wird es durch eine Tafel ergänzt, die es zum Mahnmal «an Millionen ermordeter und leidender Menschen der Sowjetunion» erklärt. Anträge um Demontage gibt es keine. Auch nicht aus Moskau. Mit Stalin hat die russische Führung heute ja auch kein Problem.