Der Traum von der «Goldenen Elf»

6. Oktober 2016

Fussball und Politik sind in Ungarn eng verzahnt. Regierung und Grosskonzerne wollen mit viel Geld ein neues Wunderteam schaffen. 

Nach dem Achtelfinal war Schluss: 0:4 verlor Ungarn gegen Belgien und musste Frankreich verlassen. Bei der Rückkehr nach Budapest wurde sie dennoch von tausenden Fans gefeiert, als hätte sie die EM gewonnen. Auch in den Medien bekam das Team Lob in Hülle und Fülle: Es habe das Land aus der Depression geholt, den Ungarn neues Selbstbewusstsein gegeben. Das Gruppenspiel gegen den späteren Europameister Portugal (3:3) gehörte zu den schönsten und spannendsten des gesamten Turniers. 


Im Schatten des Fussballstadions: Viktor Orbans Haus in der kleinen Gemeinde Felcsut. Foto: B. Odehnal

Allerdings konnte das Team vor allem überraschen, weil die Erwartungen jahre- bis jahrzehntelang lang so niedrig gewesen waren. Vor dem Beginn der EM-Qualfikation galt der ungarische Fussball praktisch als tot. Oder zumindest als schwer krank. Die letzten Erfolge von Nationalteam oder Clubs in internationalen Wettbewerben lagen weit zurück, trotz schillernder Nationaltrainer wie Lothar Matthäus (zwei Jahre) oder Erwin Koeman (gut zwei Jahre). Und auch der Start zur EM-Qualifikation missriet. 

500 Millionen Euro Spenden 

Nach dem 1:2 daheim gegen Nordirland gab es bereits wieder einen Trainerwechsel. Doch auch Pal Dardai blieb nicht lange, weil er bei Hertha Berlin zum Chef befördert wurde. Aber als in der Not Verbandsdirektor Bernd Storck übernahm, fand die Mannschaft Richtung Erfolg – und am Ende stand die erste Qualifikation für eine Endrunde seit drei Jahrzehnten, seit der WM 1986. Und die erste EM-Teilnahme seit 1972. 

Plötzlich zahlten sich die sportpolitischen Investitionen doch noch aus. Denn es gibt keine Sportart in Ungarn, die vom Staat und privaten Unternehmen in den vergangenen sechs Jahren auch nur annähernd so viel Geld erhielt. Das hat vor allem mit der Fussballverliebtheit des Ministerpräsidenten zu tun. Viktor Orban spielte in seiner Jugend in lokalen Vereinen und blieb dem Sport auch während seines politischen Aufstiegs treu. Die lebenslange Leidenschaft des Regierungschefs beschere jenen Firmen grosszügige Steuergeschenke, die den Fussball direkt unterstützten, schreibt der Publizist Paul Lendvai in seinem neuen Buch «Orbans Ungarn»: Zwischen 2011 und 2016 spendeten in- und ausländische Konzerne dem ungarischen Fussball etwa 500 Millionen Euro. 

Schmuckstadion in Orbans Dorf 

Der Fussball prägt heute auch das Dorf, in dem Orban in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs: Felcsut, eine Gemeinde mit 1800 Einwohnern, hat eine Fussballakademie sowie ein Stadion mit 3200 Sitzplätzen bekommen, entworfen nach den Plänen eines ungarischen Stararchitekten, mit viel Holz und kühnen Betonbögen. Das Stadion steht direkt neben dem kleinen Holzhaus, in dem Orban seine Jugend verbrachte. Finanziert wurde der Bau durch Spenden, die Unternehmen von der Steuer absetzen konnten. Die Opposition kritisiert es als architektonisches Manifest der Korruption. 

Neben Felcsut werden im ganzen Land Stadien saniert und vergrössert. In der Industriestadt Miskolc wurden dabei für einen neuen Parkplatz für die Fans des FC Diosgyör Roma vertrieben und ihre Häuser niedergerissen. Eine Gruppe dieser Ausgesiedelten machte sich vor zwei Jahren auf den Weg in die Schweiz und ersuchte in Vallorbe um Asyl. Sie wurde abgewiesen und trat nach einem Monat die Heimreise an. Der Baubeginn des neuen Stadions wird seither ständig verschoben, nun soll es im November so weit sein. Auch in Budapest ist ein neues Stadion geplant, es soll bis zur über ganz Europa verteilten EM 2020 fertig sein. 

Heute ist Viktor Orban selten auf dem Rasen, aber sehr oft auf vollverglasten VIP-Tribünen zu sehen. Die Plätze neben ihm sind für die Freunde und Vertrauten aus der Partei und der Wirtschaft reserviert. Es ist wie früher vor der Kremlmauer: Wer in der Gunst des starken Mannes steht, darf im Stadion in seiner Nähe sein. Wer es sich mit Orban verscherzt, wird auf die billigen Plätze verbannt. Das traf auch einen Oligarchen, der zu mächtig und selbstbewusst wurde. 

Berüchtigte, radikale Fans 

Den Einsatz des vielen Geldes sieht der Budapester Sportjournalist Gabor Thury skeptisch: Ja, die Infrastruktur habe sich deutlich verbessert und der Fussballverband stehe auf festen Füssen, sodass er dem Nationalteam helfen könne. Aber bei den Vereinen gebe es keine sichtbare Entwicklung, das vorhandene Geld würde nicht effizient eingesetzt, es brauche striktere Kontrollen. Nicht in den Griff bekommen die Klubs das Problem mit gewalttätigen, rechtsradikalen Fans. Besonders berüchtigt sind Fangruppen des Budapester Klubs Ferencvaros. Beim EM-Spiel gegen Island in Marseille zeigten ungarische Fans den Hitler-Gruss, bevor sie sich mit der Polizei prügelten. 

Zwei Parallelwelten 

Viele Stadien sowie die Fussballakademie in Orbans Dorf tragen den Namen des ungarischen Fussballgotts Ferenc Puskas (Spitzname: Pancho). Er war Captain der «Goldenen Elf», die im Jahrhundertspiel 1953 England im Wembley 6:3 schlug und ein Jahr später in Bern den WM-Final gegen Deutschland verlor. Nun ist es mit Bernd Storck und seinem Assistenten Andreas Möller ausgerechnet ein deutsches Duo, von dem sich die Ungarn ein neues Wunder erhoffen. Storck vermittelte dem Aussenseiter eine neue Taktik und neues Selbstbewusstsein. Er führte ihn zuerst an die EM und da auf Platz 1 in der Gruppe F, vor Island, Portugal und Österreich. Das 0:0 auf den Färöern zum Start in die WM-Qualifikation holte Fans und Medien aber bereits wieder zurück auf den Boden der Realität. 

Immerhin ist die Nationalmannschaft populär. Die Clubs hingegen spielen oft vor leeren Rängen. Die Qualität der ersten Liga ist gemäss Sportjournalist Thury dürftig, es fehle an guten Trainern und ausländischen Spielern mit bekannten Namen. Ungarischer Fussball bestehe aus zwei Parallelwelten: «Hier das Nationalteam – dort der Rest.»