Der Zürcher Psychoanalytiker Paul Parin wird in Wien neu entdeckt

31. August 2016

Zwei Brüder heben «wahre Schätze» aus dem Nachlass ihres Freundes. Und öffnen erstmals die Tür in Parins nachgebautes Arbeitszimmer – zu dessen 100. Geburtstag. 

Es ist alles da. Der drehbare Ledersessel, in dem der 2009 verstorbene Psychoanalytiker Paul Parin sass. Die grüne Couch, auf der seine Klienten lagen. Parins Schreibtisch mit dem Bakelittelefon aus den 50er-Jahren. Die Bücherregale mit Hunderten von Büchern, auf denen noch immer der kalte Zigarettenrauch klebt. Holzskulpturen, die Parin und seine Frau Goldy aus Afrika mitbrachten. Eine Holztruhe und ein metallener Aktenschrank. Nur der Blick aus dem Fenster ist ein anderer. Statt auf das Utoquai, den Zürichsee und den Uetliberg sieht man jetzt auf eine Hochschaubahn, den Prater und den Wienerwald. 


Goldy Parin-Matthey und Paul Parin, Niger 1960. Foto: Fritz Morgenthaler

Kurz nach Parins Tod haben die Brüder Johannes und Michael Reichmayr den gesamten Nachlass des bekannten Psychologen, Ethnologen und Schriftstellers aus Zürich nach Wien gebracht. Im Raum 3008 der Sigmund-Freud-Privatuniversität im Bezirk Leopoldstadt bauten sie Parins Arbeitszimmer originalgetreu wieder auf. Zu Parins 100. Geburtstag am 20. September machen sie das Zimmer zum ersten Mal öffentlich zugänglich. 

Die meisten Dokumente aus Parins Nachlass lagern in einem Nebenraum in grünen Kisten. Sie werden nach und nach gesichtet und aufgearbeitet. Johannes Reichmayr erzählt von «wahren Schätzen», die dabei zutage kommen, und nennt als Beispiel den Briefwechsel Parins mit den Intellektuellen seiner Zeit, etwa mit Christa Wolf. Nur von Parins berühmtem Fachkollegen Erich Fried gibt es keine Korrespondenz, «mit Fried hat er immer nur telefoniert». 

Erst reden, dann fotografieren 

Ein kleiner Teil des in Zürich gehobenen Schatzes wird nun in Wien erstmals ausgestellt. Es sind Fotos von den Reisen durch Afrika, die Parin in den 50er- und 60er-Jahren mit seiner Frau Goldy Parin-Matthey und mit dem befreundeten Ehepaar Ruth und Fritz Morgenthaler unternahm. Sie fuhren durch die Wüste und die Savanne, sie fuhren zu den Völkern der Dogon und Agni, sie führten dort psychoanalytische Gespräche. 

Seine Erfahrungen verarbeitete Parin in Büchern wie «Die Weissen denken zuviel» oder «Zu viele Teufel im Land – Aufzeichnungen eines Afrikareisenden». Von seinen Fotos der acht Afrikareisen wurden bisher nur wenige gedruckt oder in einer Ausstellung in Konstanz gezeigt. In Parins Nachlass fanden die Brüder Reichmayr fast 5000 Negative, 3000 konnten sie bisher sichten, scannen oder zumindest Kontaktabzüge anfertigen. 

50 Fotos werden jetzt in einer Galerie in Wien gezeigt, noch mehr sind im Ausstellungskatalog «Augen Blicke West Afrika» gedruckt. Es sind Fotos von Frauen an Wasserstellen, von Männern mit ihren Ziegenherden, von spielenden Kindern. Sie alle blicken interessiert und vergnügt in die Kamera. Parin hatte lange Gespräche mit ihnen geführt, bevor er um ein Foto bat. Parallel zur Ausstellung findet an der Sigmund-Freund-Privatuniversität ein Symposium zum 100. Geburtstag Parins statt. 

Geboren wurde Paul Parin am 20. September 1916, vermutlich in Graz. Seine Kindheit verbrachte er auf dem elterlichen Landgut in Polzela, das damals in Österreich-Ungarn und heute in der Republik Slowenien liegt. Nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich emigrierte er als Jude nach Zürich, wo er sein Medizinstudium abschloss und seine Frau Goldy kennen lernte. Während des Kriegs schlossen sich beide Titos Partisanen in Jugoslawien an. 

Schon zu Parins Lebzeiten interessierten sich Schweizer Archive für seinen Vorlass. Ein Vertrag mit dem Literaturarchiv Bern stand kurz vor dem Abschluss, scheiterte dann aber an finanziellen Fragen. Schliesslich übergab Parin sein Archiv den österreichischen Brüdern Reichmayr. Die waren seit den 90er-Jahren ständige Gäste in der Wohnung der Parins am Utoquai. 

Ein begnadeter Erzähler 

Nach dem Tod Goldy Parins und Pauls Augenoperation organisierten sie den «Abendservice»: Jeden Abend besuchten Freunde den betagten, fast erblindeten Psychologen, kochten für ihn, lasen ihm vor und liessen sich Geschichten erzählen. Parin sei ein «begnadeter Erzähler» gewesen, sagt Michael Reichmayr, «er konnte sich an jedes Detail seines Lebens erinnern». 

Einige Dinge aus Parins Leben sind während des viertägigen Symposiums in einem Hörsaal der Sigmund-Freud-Universität zu sehen: die Partisanenmütze mit dem roten Stern von Goldy Parin, Fotos aus dem Feldlazarett, in dem Paul tätig war, Zigarettenpackungen der Marke Gitanes (filterlos), die Paul bis ins hohe Alter rauchte. Eine Sammlung grell gemusterter Krawatten, die der Anti-Bourgeois bei offiziellen Anlässen trug. Nur der Computer auf dem Schreibtisch passt nicht ganz zur Sammlung. Parin hatte zwar immer eine Leidenschaft für moderne Technik und schaffte sich in den 50er-Jahren eine der ersten Telefonanlagen mit Nebenstellen in der Schweiz an. Aber seine Texte schrieb er bis zuletzt meist mit der Hand oder auf einer Hermes-2000-Schreibmaschine, gebaut in Yverdon. 

Paul Parin – Ein Jahrhundert leben. Symposium von 1. bis 4. September, Sigmund-Freud-Privatuniversität, Wien. 

Fotoausstellung: Augen Blicke West Afrika. Von 1. bis 16. September. Sala Terrena, Heiligenkreuzer Hof, Schönlaterngasse 5 in Wien. Fotokatalog: Michael Reichmayr (Hg.) Augen Blicke West Afrika, Psychosozial-Verlag, Giessen. 

In Zürich wird Parins 100. Geburtstag mit einer Tagung am 1. Oktober gefeiert: «Der Widerspruch zum Subjekt», Podiumsdiskussion mit Filmpräsentation im Kino Riffraff an der Neugasse 57, ab 10 Uhr.