Die Experimente von Münsterlingen waren zahlreicher als angenommen

18. Januar 2013

Die Psychiatrische Klinik Münsterlingen führte ab den 50er-Jahren jahrzehntelang klinische Versuche mit nicht zugelassenen Medikamenten durch - in enger Zusammenarbeit mit Forschern aus Basel.

Von Simone Rau, Mitarbeit: Bernhard Odehnal

Im Juni 2012 berichtete der «Tages-Anzeiger» erstmals über die Vorwürfe des Österreichers Walter Nowak gegen das Thurgauer Kloster Fischingen. Der ehemalige Zögling des Kinderheims schilderte die angeblich körperlichen und sexuellen Übergriffe eines Paters in den 60er-Jahren und Anfang der 70er-Jahre. Dieser streitet die Anschuldigungen ab; das Kloster lässt die Vorwürfe untersuchen.

Vor zwei Monaten enthüllte der TA dann, dass Nowak ab März 1970 für knapp zwei Jahre in der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen ambulant behandelt wurde. Und dass der 13-Jährige diverse Medikamente gegen Depressionen verschrieben bekam - auch solche, die gar nie auf dem Markt waren. So beispielsweise Ketotofranil, auch Ketoimipramin, Ketimipramin oder Ketipramin genannt. Ein trizyklisches Antidepressivum, das hauptsächlich in den 60er-Jahren in klinischen Untersuchungen für die Behandlung von Depressionen getestet, jedoch nie zugelassen wurde. In Nowaks Krankenakte taucht das Medikament auch unter dem Kürzel «G 35 259» auf. Im Weiteren erhielt er ein nicht näher beschriebenes «Ciba-Mittel». Wie ein Brief des behandelnden Psychiaters an den Direktor des Klosters Fischingen vermuten lässt, war Nowak nicht das einzige Heimkind, an dem neue Substanzen getestet wurden. Er könne Nowak «mit einer Gruppe der anderen Kinder zur Kontrolle bringen», heisst es. Auch für Karl Studer, der die Klinik Münsterlingen von 1980 bis 2006 leitete, ist es denkbar, dass sein Vorgänger Roland Kuhn weitere Heimkinder mit neuen Substanzen behandelt hat. «Es war damals nicht so ungewöhnlich, dass man Kindern Antidepressiva gab, um zu schauen, ob sie bei schweren Verhaltensauffälligkeiten nützlich sein könnten - obwohl die klassischen Symptome einer Depression fehlten.» Heute würde man «nicht mehr ungezielt probieren», ob sie nützten - sondern diese bei Kindern nur «sehr eingeschränkt» abgeben.

Zum Rapport nach Basel bereit

Ob Nowak Teil einer klinischen Studie war oder die Psychopharmaka gänzlich experimentell erhielt, konnte der TA im letzten November nicht in Erfahrung bringen. Eine Sichtung diverser Klinikakten im Thurgauer Staatsarchiv, in welche der TA Einsicht nehmen konnte, zeigt jetzt: Einen endgültigen Beweis gibt es nicht. Doch für Studer ist klar: «Mein Vorgänger Roland Kuhn bekam die neuen Substanzen aus Basel nur zur Verfügung gestellt, weil er sich bereit erklärte, die Behandlungen genau zu rapportieren. Im Handel waren die Substanzen nicht erhältlich, also muss er sie für Forschungszwecke erhalten haben.» Alle Patienten, die nicht zugelassene Medikamente bekommen hätten, seien «automatisch Teil eines klinischen Versuchs» gewesen.

In den Akten finden sich zahlreiche Informationen darüber, wie die psychopharmakologischen Versuche mit den hauptsächlich stationären Patienten stattfanden. Die Korrespondenz der Münsterlinger Psychiater mit den Pharmakonzernen Sandoz, Ciba, Geigy und Ciba-Geigy (ab 1970) lässt erahnen, wie viele Versuche es waren. Sie datiert hauptsächlich aus den frühen 50er- bis späten 60er-Jahren, aber auch aus den 70er-Jahren.

Bitte um Nachschub

Am 13. November 1964 etwa verfasst Roland Kuhn - damals noch Oberarzt - ein 25-seitiges Schreiben an die Ciba, in dem er von klinischen Versuchen mit drei Präparaten berichtet. Diese tragen die Kürzel 27 937 («eine gewisse depressive Wirkung»), 34 799 («relativ wenig wirksam») und 32 143 («typische antidepressive Wirkung»). Zum Präparat 32 143 vermerkt er detailliert die bei den Patienten aufgetretenen Nebenwirkungen: Durst, trockener Mund, Schwitzen, Herzstörungen, Blutdruckveränderungen und «schon bei kleinen Dosen sehr starke Schwindelerscheinungen». Diese letzte Nebenwirkung, so Kuhn, stelle für die Verwendung des Präparats «ein ernsthaftes Problem» dar.

Trotzdem bittet Kuhn die Basler Forscher um Nachschub. Es sei «immer sehr schwierig, wenn während der klinischen Prüfung der Nachschub von Substanzen plötzlich ausfällt». Der Brief schliesst mit dem Ratschlag, «chemische Veränderungen» an den Substanzen vorzunehmen, damit diese (noch) wirksamer würden. In anderen Briefen finden sich weitere Hinweise auf Versuche; auch diese Medikamente tragen Nummern statt Namen. So schreiben zwei Sandoz-Forscher am 11. Oktober 1963 an Kuhn: «Auf Ihre (...) Anregung hin haben wir von unserem Versuchspräparat FR 33 Tabletten à 5 mg hergestellt und lassen Ihnen mit separater Post 1000 Stück zukommen.» Zwei Monate später senden die Forscher weitere 5000 Tabletten - auch dieses Mal offenbar gratis.Zum Antidepressivum Ketimipramin, das Nowak zwischen 1970 und 1972 verabreicht wurde, findet sich in der Korrespondenz lediglich ein einziges Dokument. Es ist die Notiz zum Besuch zweier Geigy-Wissenschaftler in Münsterlingen im Mai 1969, also rund zehn Monate vor Nowaks erster Behandlung. Der Notiz zufolge ging es beim Treffen mit Psychiater Kuhn um mögliche Nebenwirkungen des Antidepressivums mit dem Kürzel «G 35 259»: «Im Vordergrund stehen die am Hund und an der Ratte mit Ketimipramin ausgelösten pathologischen Veränderungen, die auf einer gestörten Verwertung von Vitaminen (...) beruhen könnten und deshalb an Patienten nachgeprüft werden sollten», heisst es in der Notiz. Bei einzelnen Patienten sei es zu einer Veränderung der roten Blutkörperchen gekommen. Mithilfe eines speziellen Tests sollen an «chronisch mit Ketimipramin behandelten Patienten eventuell vorhandene Störungen des Vitamin-B6-Stoffwechsels geprüft werden». Weitere Informationen zum erwähnten Test finden sich in den erhalten gebliebenen Akten nirgends, und auch das Medikament selbst ist nicht mehr erwähnt. So bleibt unklar, ob und wie das Antidepressivum Nowak allenfalls geschadet hat. Der ehemalige Klinikdirektor Studer (1980-2006) bestätigt die teilweise starken Nebenwirkungen der unter Kuhn geprüften Substanzen; allfällige Schäden könne er nicht beurteilen. Man habe zur Zeit seines Vorgängers kaum etwas über die medikamentöse Behandlung von Depressionen gewusst, sei «hilflos» gewesen. Entsprechend eifrig habe man zu forschen versucht. Auch der heutige Spitaldirektor und Chefarzt der Klinik Münsterlingen, Gerhard Dammann, hält den 2005 verstorbenen Kuhn für einen «sehr fürsorglichen Arzt, der auch schwer psychisch kranke Patienten lange betreut hat». Er sei «kein düsterer Psychiater» gewesen.Zur engen Zusammenarbeit zwischen Münsterlingen und der Basler Pharmaindustrie kam es bereits in den 50er-Jahren. Auf der Suche nach einem weiteren Medikament gegen Schizophrenie entdeckte Kuhn 1956 Imipramin - das erste Antidepressivum überhaupt. Nach einer einjährigen Prüfung bei 40 klinischen Patienten in Zusammenarbeit mit Geigy kam Imipramin 1958 auf den Markt und veränderte die Psychiatrie grundlegend.

Laut einem ehemaligen Münsterlinger Pflegeschüler war in den 50er-Jahren nicht einmal den Pflegern klar, was sie den Patienten abgaben. «Keiner der Pfleger wusste, was er gibt», erzählte der bald 80-jährige Mann der «Thurgauer Zeitung». «Je nachdem, wie die Patienten reagiert haben, hat dann dieser Oberarzt entschieden, wir müssen wechseln, von diesem weniger, von jenem mehr.» Als ein 13-Jähriger nach der Einnahme der Medikamente an Erbrechen und Durchfall gelitten habe, habe er die Medikamente abgesetzt - und sei von Oberarzt Kuhn vehement zurechtgewiesen worden. Anschliessend habe man dem Jungen das Medikament wieder verabreicht.

In den Akten im Staatsarchiv findet sich kein Hinweis darauf, dass die Patienten ihre Einwilligungen in die Versuche gaben. «Wahrscheinlich gab es keine schriftlichen Einverständniserklärungen», sagt auch Studer, unter dem ab 1980 keine Versuche mehr stattfanden. Er gehe aber davon aus, dass man die Patienten mündlich informiert habe.

Kuhn war umstritten

Im Thurgau war Pionier Kuhn trotz seiner grossen wissenschaftlichen Leistung umstritten. Im August 1973 sah er sich genötigt, in einem 44-seitigen Schreiben an den Thurgauer Grossen Rat Stellung zu nehmen zu massiver öffentlicher Kritik. Unter anderem warf man ihm «eine rigorose Hierarchie» und eine «restriktive Personalpolitik» vor. Es mangle an Ärzten und Pflegern, auch stelle er weder Sozialarbeiter noch Psychologen an.

In seiner Antwort an den Grossen Rat gab Kuhn den Abgang von fünf Ärzten im Jahr 1972 zu. Beim Pflegepersonal sei der Mangel «besonders schwer». Am 1. Juli 1973 hätten 17 Pfleger, 31 Schwestern sowie 44 Pflegeschüler gefehlt. «Der Betrieb kann nur aufrechterhalten werden durch grossen Einsatz des vorhandenen Personals», schrieb Kuhn. Gleichzeitig machte er deutlich: «Unsere wissenschaftliche Tätigkeit richtet sich vor allem darauf, die moderne psychopharmakologische Behandlung zu verbessern.» Es sei für ihn «bemühend», zu hören, in seiner Klinik würden die Patienten in einer für sie schädlichen Weise betäubt, nachdem gerade in Münsterlingen «entscheidende Entdeckungen» gemacht worden seien.

Verstanden gefühlt haben muss sich Kuhn immerhin von den Basler Forschern. So erhielt seine Klinik Ende 1967 von der Ciba-Direktion 12 000 Franken zugunsten des wissenschaftlichen Fonds. Über ihn, den damaligen Oberarzt, der 1970 Direktor wurde, heisst es im Begleitschreiben: «Herr Prof. Dr. Kuhn hat verschiedene unserer Präparate klinisch untersucht. Wir sind ihm deshalb zu grossem Dank verpflichtet.»