In die Falle gelockt

4. September 2015

Westlich von Budapest hält die Polizei einen Zug mit rund 500 Menschen fest. Der Weg nach Westen ist ihnen versperrt.

Als der Intercity nach Sopron den Budapester Ostbahnhof verliess, dachten seine Passagiere noch an eine Reise in die Freiheit. Nachdem die ungarische Polizei den Zugang zum Bahnhof Donnerstagmorgen wieder freigegeben hatten, stürmten Hunderte Flüchtlinge die Bahnsteige und in den nächstbesten Zug, der Richtung Westen abfahren sollte. Dass dieser Zug sie nur auf die ­ungarische Seite der Grenze bringen würde, verstanden sie nicht. Ebenso entging ihnen die Ironie der Stunde, dass die Lokomotive mit einer Erinnerung an das paneuropäische Frühstück 1989 bemalt war: Damals gingen die Grenzen des Ostblocks für Tausende Flüchtlinge aus der DDR auf. 


Flüchtlinge halten handgeschriebene Botschaften aus dem Zug. Foto: B. Odehnal

Doch dieser Moment der Befreiung sollte sich 26 Jahre danach nicht wiederholen. Nach etwa 30 Minuten Fahrt hält der Zug im Bahnhof der Kleinstadt Bicske, und die Polizei teilt den rund 500 Flüchtlingen mit, sie müssten die Waggons verlassen und sich im Flüchtlingslager registrieren lassen. «Das war eine Falle, sie wollten uns im Lager festhalten», glaubt Mohammed, ein Syrer aus Aleppo, der mit seinen Kindern nach Deutschland will, «damit sie dort eine Zukunft ohne Bomben haben». Niemand verlässt den Zug, der aber auch nicht weiterfahren durfte. 

Am Nachmittag ­bewegt sich dann gar nichts mehr. Starke Polizeieinheiten riegeln den Bahnhof ab, die Sonne brennt vom ­Himmel auf die sechs Waggons mit rund 500 Insassen. Unter ihnen sind viele junge Männer aus Syrien und Afghanistan, aber auch Kinder und alte Menschen. Weil sie sich nicht registrieren lassen, dürfen sie   auch nicht aus dem Zug. 

«Unsere Kinder brauchen Luft» 

Die Polizei ist auf dem Bahnsteig und lässt zuerst Journalisten zu, drängt sie aber später vom Bahnsteig zurück in das heruntergekommene Bahnhofsgebäude. Viele Polizisten tragen Masken vor dem Mund und Handschuhe. Sie sind nicht dazu verpflichtet, aber es wurde ihnen von ihren Vorgesetzten erklärt, dass die Flüchtlinge ansteckende Krankheiten haben könnten. So argumentieren auch die Regierungspartei und die ungarischen Rechtsextremen: Flüchtlinge aus dem arabischen Raum würden Europa zerstören, weil sie ansteckende Krankheiten mitbrächten, gegen die Europäer keine Abwehrkräfte hätten. Die Klimaanlagen der Waggons sind zu schwach, die Temperaturen steigen. 

Nach drei Stunden kommen erstmals zwei Sanitäter und kümmern sich um erkrankte Kinder. Freiwillige Helfer bringen Wasser. Aber sie werden nicht zum Bahnsteig vorgelassen. Die Polizisten haben grosse Wasservorräte in ihren Mannschaftsbussen. Die Flüchtlinge kleben handgeschriebene Zettel an die Fenster, dass Ungarn sie umbringen wolle: «Hungary will kill us», oder auch «Unsere ­Kinder brauchen Luft». Ein kleines ­Mädchen hält einen Zettel ins Waggonfenster: «Ich will nach Deutschland, um zu leben.» 

Die Polizei ist unfreundlich und unsicher, aber nicht wirklich aggressiv. Niemand weiss, wie es weitergehen soll. Nicht die Polizisten, nicht die Journalisten und schon gar nicht die Flüchtlinge. «Werden Sie uns töten?», fragt ein alter Syrer einen Polizisten. Der schüttelt nur den Kopf und dreht sich weg. 

Ungarns Vizechef macht Merkel verantwortlich 

Der ungarische Staatssekretär Gergely Pröhle sagte im österreichischen Fernsehen, dass die Flüchtlinge natürlich weiterfahren dürften, aber zuvor ­registriert würden. Nur könnte das die Polizei auch in den Waggons machen, es wäre vermutlich sogar einfacher. Fidesz-Vizechef Lajos Kosa macht im ungarischen Parlament die deutsche Kanzlerin Angela Merkel für das Chaos in Budapest und Bicske verantwortlich: Es sei nur entstanden, weil eine «ungeschickte Kanzlerin» sich ungeschickt ausgedrückt habe. 

In Budapest spricht sich die Nachricht schnell herum, viele Flüchtlinge haben ja noch Mobiltelefone. Als Konsequenz will sich niemand mehr in einen Zug setzen. Das löst aber das Problem nicht. Im Gegenteil. Wieder füllt sich der Vorplatz, und noch immer liegen Tausende in der Unterführung zur Metro­station. Die Budapester Stadtregierung will gleich neben dem Bahnhof ein Flüchtlingslager für 1000 Personen errichten, aber dafür braucht sie noch mindestens eine Woche. Ausserdem könnten bei weitem nicht alle Menschen untergebracht werden. 

Als in Bicske die Sonne untergeht, verlassen viele Flüchtlinge den Zug, um auf dem Bahnsteig Luft zu schnappen. Sie bleiben aber sicherheitshalber bei den Waggontüren stehen und rufen von dort aus: «Germany, Germany». Ein Vater hat seine kranke zweijährige Tochter am Arm und wird von der Polizei zu einem Rettungswagen vor dem Bahnhof begleitet. Als er mit ihr zurück zum Zug will, versperren die Polizisten den Weg. Die Kleine müsse ins Spital, wird ihm in gebrochenem Englisch erklärt. Doch er weigert sich, seine Frau und seine anderen Kinder sind noch im Zug. Er hat Angst, danach gleich ins Lager abgeschoben zu werden. «No Hospital, no camp», schreit er den Polizisten an: «Better kill me.» 

Spendern den Weg versperrt 

Freiwillige Helfer tauchen auf, manche aus Bicske, andere aus Budapest. Sie haben Kartons voller Äpfel, Brot, Käse. Die Spenden aber erreichen die Zugpassagiere nicht. Die Polizei lässt die Freiwilligen nicht durch und würde die Lebensmittel nur selbst verteilen. Die Flüchtlinge aber weigern sich, Nahrung von der Polizei anzunehmen. Die jungen Männer wollen in den Hungerstreik ­treten. Die Toiletten der Waggons sind längst verstopft und defekt, mobile ­Toiletten aber werden nicht aufgestellt. «Unser Staat hat ihnen zuerst das Geld für die Fahrkarten abgeknöpft und lässt sie jetzt hier verhungern», wundert sich ein ungarischer Beobachter am Bahnhof Bicske. 

Am Abend geben immer mehr Flüchtlinge den Widerstand auf. Sie lassen sich in kleineren Grüppchen mit einem Bus ins Camp bringen. 

In Budapest geht inzwischen das ­Gerücht, dass die Flüchtling vor dem Ostbahnhof beschlossen hätten, zu Fuss Richtung Westen aufzubrechen. Am Freitag gegen Mittag wollen sie auf­brechen. In Bicske fährt inzwischen auf einem Nebengleis ein anderer Intercity aus Budapest Richtung Sopron vorbei. In Györ hat er Anschluss zu einem Regionalzug zur Grenze und nach Österreich. Auch dieser Zug hat sechs Waggons. Sie sind fast leer, kein einziger Flüchtling sitzt darin.