Die Grenze in den Köpfen

29. Oktober 2015

An der slowenisch-österreichischen Grenze wird europäisches Versagen sichtbar. 

800 Meter lang und 100 Meter breit ist das Elend der EU in der Flüchtlingskrise. Auf diesen 80'000 Quadratmetern, der Fläche von elf Fussballfeldern, kann man an der slowenisch-österreichischen Grenze so ziemlich alle Widersprüche und Absurditäten studieren. Nicht eines, sondern gleich zwei riesige Flüchtlingslager sind zwischen Eisenbahn und Autobahn entstanden, eines auf slowenischer und eines auf österreichischer Seite. 

Diese beiden Lager in Sentilj (Slowenien) und Spielfeld (Österreich) haben ihre eigenen beheizten Grosszelte, ihre eigenen Küchen, Essensausgaben, Kleiderverteilungen, sanitären Einrichtungen, Sanitätsstationen. Zur Über­wachung und Organisation der beiden Lager setzen die beiden nationalen Regierungen eigene Polizei- und Militäreinheiten ein. Es ist eine gigantische Verschwendung finanzieller und menschlicher Ressourcen, die zur Bewältigung der Flüchtlingskrise an anderen Stellen fehlen und dringend gebraucht würden. 

Das Absurdeste daran: Trotz dieser enorm teuren Verdoppelung der Infrastruktur müssen in Spielfeld Hunderte Flüchtlinge, unter ihnen alte Menschen und Kinder, in einem kleinen Stück Niemandsland zwischen den beiden Lagern in bitterer Kälte im Freien übernachten, ungeschützt und unversorgt. Denn die zwei Staaten, Mitglieder der EU und des Schengen-Abkommens, wollen den Zustrom der Flüchtlinge nicht gemeinsam regeln. 

Die Kooperation mit den Nachbarstaaten sei «ausgezeichnet», beteuern Politiker und Polizeisprecher bei jeder Gelegenheit. Solche Phrasen sind nur heisse Luft, mit der Praxis draussen an der Grenze haben sie nichts zu tun. Wenn die Flüchtlinge in Gruppen zu 800 oder 1000 Menschen in Sentilj ankommen, werden sie im Lager registriert (zumindest ein Teil von ihnen), versorgt und bekommen ein Feldbett zugewiesen. Irgendwann werden sie weiter­geschickt ins Niemandsland. Dort warten sie. Manchmal 12, manchmal 24 Stunden. Dann dürfen sie 100 Meter weiter ins österreichische Lager, wo sie wieder registriert und versorgt werden und ein Feldbett bekommen. Und irgendwann geht es weiter in Autobussen an die deutsche Grenze. 

Sichtkontakt ohne Kommunikation 

Österreichische und slowenische Polizisten und Soldaten haben auf dem kleinen Areal ständig Sichtkontakt zueinander, aber miteinander reden dürfen sie nicht. Slowenien sagt den Österreichern nicht, wann die nächsten Flüchtlingskonvois in Sentilj zu erwarten sind, Österreich sagt den Slowenen nicht, wann die Busse Flüchtlinge aus Spielfeld wegbringen. Dazu kommt eine archaische Angst vor «denen da drüben», die man   in der Geschichte zu oft schon als Feind erlebt hat. Die Grenzbalken sind abgebaut, die Zollhäuser verfallen. Doch die Bekenntnisse zur guten Nachbarschaft sind oberflächlich, das Misstrauen sitzt tief. 

Selbst eine gemeinsame Sprache ist keine Hilfe, wenn der Wille zur Kommunikation fehlt. Bayern und Oberösterreicher sprechen sogar denselben Dialekt, dennoch ist das Klima jetzt vergiftet, weil die österreichische Polizei jeden Tag ohne Absprache mit den deutschen Kollegen Tausende Flüchtlinge an die Grenze schickt, aber ihnen nichts mitgibt ins Niemandsland, wie die «Süddeutsche Zeitung» beobachtete: «Keinen Klowagen, keine Zelte, keine Decken, keinen Tee, nichts.» Österreichs Innenministerin beschuldigt wiederum Deutschland, zu wenige Flüchtlinge aufzunehmen und dadurch einen Rückstau in den Transitländern zu erzeugen. 

Das also ist die EU in Krisenzeiten: Jeder Staat   schaut für sich. Kooperationswille null. So   kann das nichts werden. Die Idee des gemeinsamen Europas wird nicht an den Flüchtlingen scheitern. Sie wird an den Grenzen in den Köpfen der Europäer scheitern, die lieber ein Vermögen in Grenzzäune und Grenzschutztruppen investieren wollen, als gemeinsame, supra­nationale Krisenstäbe zu bilden oder gar –   Gott bewahre – staatliche Kompetenzen an Brüssel abzugeben. Die europäische Idee wird an   Grenzübergängen wie Sentilj/Spielfeld scheitern, wo es die zwei Schengen-Staaten Slowenien und Österreich nicht einmal schaffen, auf einem Platz in der Grösse von elf Fussball­feldern ein gemeinsames Flüchtlingslager zu errichten.