Die Helfer sind am Ende ihrer Kräfte

13. September 2015

In Ungarn und Österreich übernehmen Freiwillige die Aufgaben des Staates. In Österreich bleiben sie alleine, in Ungarn werden sie mit Gefängnisstrafe bedroht. 

Einen Polizisten muss sie noch überreden, dann hat es Edna geschafft. Sie schiebt eine syrische Familie durch die Barriere, steckt ihr Tickets zu und winkt noch einmal, als die Eltern mit drei kleinen Kindern den Zug Richtung Österreich besteigen. Dann bricht Edna erschöpft unter Tränen zusammen. Anderthalb Tage hat die Tochter einer Ungarin und eines Palästinensers nicht geschlafen, hat übersetzt, hat sich in die lange Schlange vor dem Ticketschalter im Budapester Ostbahnhof gestellt, um dann von einer Beamtin abgewiesen zu werden. 


Helferin Neda verhandelt am Budapester Ostbahnhof. Foto: Andras D. Hajdu

Edna möchte helfen, sie hat ­dafür ihre Ferien abgebrochen. Aber Bürokratie und Ignoranz der Behörden bringen sie zur Verzweiflung. Warum kann die Stadt nicht mehr mobile Toiletten aufstellen, fragt sie. Warum kann die Bahn Flüchtlingen nicht einfach Tickets in die Hand drücken? 

250 Kilometer westlich sucht Julian Pöschl auf dem Wiener Hauptbahnhof einen 12-jährigen Syrer, der im Gedränge verloren ging. Der Junge kam ohne Eltern, nur in Begleitung seines älteren Bruders. Der verlor ihn irgendwo zwischen der Grenze bei Nickelsdorf und Wien aus den Augen. Pöschl findet ihn schliesslich vor dem Bahnhof am Boden sitzend. Erleichtert zündet sich der 24-jährige österreichische Filmemacher eine Zigarette an. Zwei Packungen raucht er jetzt täglich, zum Essen kommt er kaum. 


Julian Pöschl, Gründer von «train of hope», im Hauptbahnhof Wien. Foto: B. Odehnal

Tausende Freiwillige wie Edna oder Julian Pöschl sind seit Wochen in Ungarn und Österreich im Einsatz. Sie bringen Lebensmittel und Zelte nach Röszke, an die serbisch-ungarische Grenze. Sie schenken in Budapest Tee aus und laden Mobiltelefone auf. Sie bringen mit ihren Autos Flüchtlinge von der österreichischen Grenz­station Nickelsdorf nach Wien. Sie errichten Notschlafstellen, bieten Betten in ihren Wohnungen an, suchen nach verschwundenen ­Familienmitgliedern. 

Hilfsgüter kommen nicht dort an, wo sie gebraucht werden 

Der Dank dafür ist bescheiden. Österreichs Bundespräsident Heinz Fischer lobte das «grossartige» ­Engagement der Zivilgesellschaft. «Bei uns hat sich noch kein Politiker blicken lassen», sagt Pöschl, der im Wiener Hauptbahnhof mithilfe der österreichischen Bundesbahnen und Hunderten Freiwilligen aus der Facebook-Gemeinschaft eine kleine Flüchtlingsstadt errichtet hat. In den vergangenen Nächten mussten sie hier jeweils über 2000 Menschen unterbringen. Die Helfer fühlten sich zunehmend ausgenützt, sagt er: «Der Staat schaut zu, wie wir seine Aufgaben übernehmen.» 

Während in Österreich zumindest die Zusammenarbeit der Freiwilligen mit den staatlichen Stellen funktioniert, bleiben die ungarischen Helfer auf sich gestellt. Nicht nur der Staat, auch grosse humanitäre Organisationen und Kirchen halten sich aus der Flüchtlingskrise raus. Katholische Pfarreien nehmen keine Flüchtlinge auf, weil es gesetzlich verboten ist. Private Organisationen wie Migration Aid in Budapest oder «Solidarität mit Migranten» (Migszol) in Szeged springen ein. Hinzu kommen kleine Initiativen mit engagierten, aber unerfahrenen Helfern. Für sie sei die Gefahr eines Burn-outs besonders gross, sagt Migszol-Mitarbeiterin Anna Kallius. Decken, Zelte und Essen gebe es in Ungarn genug: «Was uns fehlt, ist Koordination.» 

Sie fehlt ganz besonders am Grenzübergang Röszke. Dort kommen täglich Tausende über ein Bahngleis durch die einzige Lücke im ungarischen Grenzzaun. Einen knappen Kilometer können die Flüchtlinge weitergehen, dann werden sie von der ungarischen Polizei auf offenem Feld an einem Bahnübergang aufgehalten und müssen auf den Weitertransport mit Bussen in Lager warten. 


Flüchtlinge überqueren die Grenze bei Röszke. Foto: B. Odehnal

Die ungarische Caritas und Migszol sind vor Ort. Und Helfer aus Deutschland, Österreich, Spanien, Frankreich. Jeder macht, was er will. Die Deutschen schenken Tee aus, die Österreicher bringen Gewand und Wasser, von beidem gibt es aber ohnehin genug. Decken, Jacken, Schuhe liegen in grossen Haufen neben der Strasse. 

Dort, wo sie wirklich gebraucht werden, kommen die Hilfsgüter nicht an: Die grossen Sammellager nahe der Autobahn werden von der Polizei hermetisch abgeriegelt. Weder Journalisten noch Helfer dürfen sie betreten. Drei Österreicher bekamen diese Woche nach zähen Verhandlungen Zutritt zu einer alten Zollhalle mit rund 300 Flüchtlingen. Sie sahen Bauzäune, hinter denen die Menschen wie in Käfigen lebten, sie sahen eine ­Sanitätsstation mit einem Stethos­kop, zwei Pflaster und drei Rollen Klopapier, sie sahen Polizisten, die als Abendessen in Plastik verpackte Sandwichs in die Menge warfen. «Das Lager besteht seit drei Monaten», sagt die österreichische Helferin Michaela Ehrenhauser, «wieso gibt es da keine menschengerechte Essensausgabe?» 

Während ihre Kollegen Medikamente verteilten, filmte Ehrenhauser die Szene und stellte sie ins Internet. Als Regierungschef Viktor Orban bei einer Pressekonferenz darauf angesprochen wurde, lobt er die Polizei. Ehrenhauser bekam Warnungen, sie solle besser nicht mehr nach Ungarn fahren. 

Orban hatte für die Medien eine andere Botschaft: Dienstag werde die Regierung über die Ausrufung des nationalen Notstands entscheiden. Dann würden Flüchtlinge nicht mehr «so höflich begleitet». Wer die Grenze illegal überschreite, begehe ein Verbrechen und müsse mit Verhaftung und Gefängnis bis zu drei Jahren rechnen. 

Ungarns Regierung schürt die Angst in der Bevölkerung 

Für die Flüchtlingshelfer bringen die neuen Gesetze neue Ungewissheiten. Wird Helfen zum Verbrechen? Müssen sie mit Gefängnis rechnen, wenn sie Flüchtlingen Essen reichen oder den Weg zum Bahnhof zeigen? Der ungarische Kanzleramtsminister Janos Lazar behauptet: Nein. Aber mindestens sieben Ausländern droht schon jetzt ein Gerichtsverfahren, weil sie Flüchtlinge in ihren Privatautos abholen und über die österreichische Grenze bringen wollten. Obwohl sie kein Geld wollten, werden sie der Schlepperei verdächtigt. Viele Ungarn würden Flüchtlingen nun nicht mehr helfen wollen, weil sie sich vor Strafen fürchteten, sagt Anna Kallius. 

Mit dem neuen Gesetz bekommt die Polizei die Ermächtigung, Flüchtlinge auf Privatgrund zu verfolgen und private Wohnungen zu betreten, wenn sie darin Flüchtlinge vermutet. Die Regierung Orban wende in der Flüchtlingskrise eine altbewährte Taktik an. Kallius sagt: «Sie schafft nicht Rechtssicherheit, sondern Unsicherheit. So stellt sie sicher, dass die Menschen ängstlich bleiben.»