Die Roma sollen die Stadt verlassen

7. Oktober 2014

Am 12. Oktober finden in Ungarn Kommunalwahlen statt. In der Industriestadt Miskolc haben alle grossen Parteien die Vertreibung der Roma im Wahlprogramm. Die rechtsextreme Jobbik könnte gewinnen.

Sie haben noch einmal Aufschub bekommen. Noch ein halbes Jahr dürfen Sandor Lakatos und seine Frau in ihrer kleinen Wohnung in der nordungarischen Stadt Miskolc bleiben, das hat eine Richterin entschieden. Nächstes Frühjahr aber müssen sie ganz sicher raus. Verständnis für ihre Situation habe die Richterin nicht gezeigt, meint Lakatos: «Sie sagte uns nur, wir sollten hier nicht Theater spielen.» Ihre Nachbarn trafen auf noch weniger Verständnis. Einige wurden bereits aus ihren Wohnungen geworfen, zum Teil mit Polizeigewalt. Anderen droht dieses Schicksal in den nächsten Wochen.


Sie müssen ihre Wohnung räumen: Jozsefne Molnar mit Tochter und Enkelin. Foto: B. Odehnal

Jozsefne Molnar muss am 20. Oktober ihre Wohnung räumen. Aufschub bekommt sie nicht: «Der Beamte herrschte mich nur an, ob ich denn ein Schaf sei, dass ich die Kündigung nicht verstehe.» Molnar hat viel Arbeit und Geld in die Wohnung gesteckt. Die Fenster sehen ziemlich neu aus, der Boden auch. Finanzielle Entschädigung wird sie dafür nicht bekommen. Auch eine andere Wohnung wird ihr von der Gemeinde nicht angeboten. Ihre Anträge blieben unbeantwortet: «Sie wollen uns zu ­Beginn der kalten Jahreszeit einfach auf die Strasse setzen.»

Miskolc will ein besseres Image

Molnar und Lakatos sind Roma. Sie wohnen in einer Siedlung am Stadtrand von Miskolc, die in der Stadt nur die «Nummerierten Strassen» heisst. Es sind ebenerdige, lang gestreckte Ziegel­bauten aus dem späten 19. Jahrhundert. Früher lebten hier die Arbeiter des riesigen Stahlwerks Diosgyör. Doch nach der Wende gingen die meisten Arbeitsplätze verloren, die Facharbeiter zogen weg, die Roma blieben. Sie leben in Ghettos wie der Siedlung der Nummernstrassen, wo sie das Wasser von Brunnen holen müssen. Sie leben auch in der riesigen Plattenbausiedlung Avas auf einem Hügel über der Stadt. Dort heissen sie nur «die Fremden», und die Nicht-Roma klagen über den Müll, über Diebstähle und Jugendbanden, die in der Nacht die Strassen unsicher machen würden.

Vom berüchtigten Stahlwerk sind heute nur mehr kalte Schornsteine und verfallene Fabrikhallen zu sehen. Miskolc aber, die viertgrösste Stadt Ungarns, möchte ihr Image ändern. Weg von der Tristesse der Industrieruinen, hin zu einem Zentrum der Erholung und des Sports. Der beste Fussballklub der Stadt, der Diosgyöri VTK, soll ein neues Stadion bekommen, Fifa-tauglich, mit mehr Sitzplätzen und Stellplätzen für 400 Busse der Fussballfans. Für diesen Carparkplatz soll die Romasiedlung der Nummernstrassen weichen. Bis 2018 will die Gemeinde sämtliche Häuser abgerissen haben. Die Nervosität unter den Bewohnern sei gross, sagt Bela ­Horvath, Mitglied der Roma-Selbst­verwaltung: «Jeder fürchtet, dass auch er den Brief bekommt. Niemand weiss, wie es dann weitergehen soll. Viele ­werden krank vor Kummer.»


«Viele werden krank vor Kummer»: Bela Horvath in der Siedlung der nummerierten Strassen. Foto: B. Odehnal

Warum dafür die Siedlung weichen muss, ist beim Lokalaugenschein nicht einleuchtend. Zwischen dem bestehenden Stadion und den Industrieruinen liegt Brachland, das ohne grosse Investitionen zu Parkplätzen umgestaltet werden könnte, ohne dass die Häuser der Roma zerstört würden.

Warum dafür die Siedlung weichen muss, ist beim Lokalaugenschein nicht einleuchtend. Zwischen dem bestehenden Stadion und den Industrieruinen liegt Brachland, das ohne grosse Investitionen zu Parkplätzen umgestaltet werden könnte, ohne dass die Häuser der Roma zerstört würden.

Die Roma von Miskolc glauben deshalb, dass es nicht um ein Infrastrukturprojekt gehe. Sondern darum, sie aus der Stadt zu vertreiben. In ganz Ungarn finden am 12. Oktober Kommunalwahlen statt, und in Miskolc konzentriert sich der Wahlkampf ganz auf das Thema der angeblichen Roma-Kriminalität. Auch die Koalition linker Parteien macht mit. Ihre Kandidaten werben mit dem Versprechen, sie würden «Ordnung ­machen»: Miskolc solle wieder den ­Miskolcern gehören.


Nicht auf dem Brachland (rechts) sondern statt der Roma-Siedlung (links) soll der neue Parkplatz gebaut werden. Foto: B. Odehnal

Kampagnen gegen die Minderheit laufen in Miskolc schon seit Jahren. Der damalige Polizeichef von Miskolc, Albert Pasztor, hatte 2009 erklärt, dass Einbrüche und Raub in der Stadt ausschliesslich von Roma begangen würden: Das Zusammenleben mit der Minderheit sei «einfach unmöglich». Er wurde von der damaligen sozialistischen Regierung ­seines Amts enthoben, aber auf Druck lokaler Politiker wieder eingesetzt. Am 12. Oktober tritt er als unabhängiger Kandidat an, der von der vereinigten Linken unterstützt wird.

Protestmarsch durch die Plattenbausiedung

Die rechtsextreme Jobbik rief vor zwei Jahren zu einem Protestmarsch durch die Plattenbausiedlung Avas auf. Jobbik wolle Segregation, sagte Par­teichef Gabor Vona damals: «Man muss die aufbauenden von den zerstörenden Menschen trennen.» Jetzt haben die Rechtsextremen gute Chancen, in ­Miskolc den nächsten Bürgermeister zu stellen. In den Umfragen liegen Jobbik, Sozialisten und Viktor Orbans Fidesz, etwa gleichauf.

Fidesz stellt derzeit mit Akos Kriza den Bürgermeister. Auch er ist bemüht, die Roma aus der Stadt zu vertreiben. Im Frühjahr begründete er den Entscheid, die Siedlung dem Erdboden gleichzumachen, mit der «Verbesserung der öffentlichen Sicherheit». Weder Kriza noch die Kandidaten von Jobbik und der Linken waren zu einem Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» bereit.

Bisher bekamen Roma das Angebot einer finanziellen Hilfe nach der Zwangsräumung. Bedingung: Sie mussten sich in einem Dorf ansiedeln und sich verpflichten, Miskolc mindestens fünf Jahre nicht zu betreten. Der Plan scheiterte aber an den wütenden Protesten der umliegenden Gemeinden. Jetzt verschickt Bürgermeister Kriza einfach nur mehr Kündigungen, ohne Geld oder Ersatzwohnung anzubieten. Rund 600 Menschen sind von den Zwangsräumungen betroffen.

«Das Leben war immer schon schwierig für uns in Miskolc», sagt Gabor Varadi, «aber jetzt droht eine soziale Katastrophe.» Varadi kandidiert für die «Ungarische Zigeunerpartei» zum Bürgermeister unter dem Motto «Wir bleiben in Miskolc». Er warnt, dass ein Exodus der Roma drohe, sollte Jobbik die Wahlen gewinnen und den Bürgermeister stellen. In der Siedlung der Nummernstrassen werden bereits Reisepläne geschmiedet. Bela Horvath möchte um Asyl in der Schweiz ansuchen. In Miskolc, sagt er, gebe es für Roma keine Zukunft mehr.